Helene N. (Hirschfeld 15)

Wann erwähnt: 1910

Namen(n): M: / W: Helene N.

Lebensdaten: 1880-04 in Berlin geboren

Beruf: Anstreicher, Matrose, Bergmann, Schlosser, Hausdiener, Einseifer, Plättdirektrice, Walfischer, Berlin, Schildhorn, London, Skarbourough, auf See, Frankfurt/O, Küstrin, Hamburg

Ort(e): Osten Berlins, Harz (Mägdesprung, Nordhausen usw.), Kassel, Norwegen (Christiania, Trontheim, Trommen, Randefjord, Skien, Christiansund)

Fallbeschreibung

Originaltext Hirschfeld

Fall XV.

Vor einer Reihe von Jahren wurde auf einem Bau im Osten Berlins ein junger Anstreicher sistiert; es war gegen ihn eine Anzeige von einem Manne eingegangen, der behauptete, dass seine Gattin mit diesem Maler die Ehe breche. Zur grossen Ueberraschung nicht am wenigsten des eifersüchtigen Ehemannes und seiner Frau ergab sich auf der Polizei, dass der Verdächtige überhaupt nicht dem männlichen, sondern dem weiblichen Geschlecht angehörte, worauf dann ihre Entlassung erfolgte. Der Fall ging damals durch die Berliner Zeitungen. Mein verstorbener Kollege Dr. med. Lubowski in Charlottenburg, hatte diese Person in seiner Praxis kennen gelernt, nahm an ihrem Geschick lebhaften Anteil und führte sie mir zu. Leider entschwand sie nach einigen Monaten wieder unseren Blicken. Ihren Erzählungen und Aufzeichnungen, welche im Wesentlichen auf uns einen durchaus glaubwürdigen Eindruck machten, von ihr unter anderem auch durch ein Gruppenbild bestätigt wurden, das sie als Matrose auf Deck eines Schiffes zeigt, entnehmen wir folgendes:

Helene N. wurde im April 1880 zu Berlin geboren. Als wir sie kennen lernten, war sie 27 Jahre. Ihr Vater war an Blinddarmentzündung gestorben, ihre Mutter lebt und ist gesund. Sie hat zwei Brüder, der ältere 29, der jüngere 25 Jahre alt, beide gesund und anscheinend normal. Als Kind war sie sehr wild, beteiligte sich lebhaft an den Indianer- und Soldatenspielen der Knaben. Wir lassen sie nun selbst berichten: „Aus meiner Kinder zeit kann ich nicht viel von Bedeutung mitteilen, nur dass ich immer den einen sehnlichsten Wunsch hatte, dass ich doch ein Junge wäre, ich habe meinem seligen Vater oft Vorwürfe gemacht, dass ich kein Junge bin, aber was kann der arme Mann dafür, meine lieben Eltern haben sich ja mit mir die grösste und erdenklichste Mühe gegeben, um aus mir ein sanftes ruhiges Wesen zu machen. Mit 14 Jahren schickten sie mich zu einem Pfarrer in Pension, damit ich häuslich, wirtschaftlich, kurzum ein geduldiges Schaf werden soll; es misslang aber gänzlich, da ich schon nach einem Vierteljahr durch das Fenster verschwand. Nicht etwa, dass ich irgend etwas verbrochen hätte, sondern weil der Pfarrer die Keckheit gehabt hatte, mir eine Ohrfeige zu geben und warum? Nur weil wir uns ein bischen lustig machten und wenn er über Land war, tanzten. Freilich war ich der Anstifter, wir waren nämlich neun Pensionärinnen und sollten alle kuschen lernen, aber was hat solcher Landpfarrer für eine Ahnung von Berliner Blut, ich habe es ihm auch deutlich genug gesagt, er solle sich zum Schlagen keinen Berliner aussuchen, sondern seine Landpommeranzen nehmen. So bin ich denn bei Nacht und Nebel zum Fenster heraus, habe mich an der Dachrinne von der ersten Etage heruntergelassen, vorher hatte ich meine Sachen einem Müllerknecht gegeben und nun fing mein Leben an, denn endlich war ich frank und frei. Die Welt lag offen vor mir, ich dachte sie mir ordentlich anzusehen und da mir meine Mädchenkleidung unbequem war, zog ich mir Männerkleider an. Mein sehnlichster Wunsch war erfüllt, wenn auch nicht in dem Masse wie mein Verlangen war, aber es wusste doch niemand ausser mir, dass ich ein Mädchen war. Zuerst zog ich in den Harz, von einem Ort zum ändern, habe mich schlecht und recht durchgeschlagen, verschiedene Arbeiten gemacht, was mir ja zuerst etwas schwer fiel; da ich aber gross und kräftig war, wurde ich es bald gewöhnt. Schliesslich nahm ich eine Stelle in einem Kohlenbergwerk an. Das bergmännische Leben gefiel mir ganz gut, aber ich merkte bald, dass es für meine Gesundheit doch ein gefährliches Arbeiten ist, deshalb musste ich nach 6 Wochen meine Beschäftigung niederlegen, was mir sehr leid tat, da ich gern ein bischen mehr vom Bergmannsleben erfahren hätte. Aber es ging nicht, da meine Kollegen es sonst gewahr geworden wären, dass ich ein Weib bin, denn ich fürchtete immer in der stickigen Luft einmal ohnmächtig zu werden, dann wäre es zu spät gewesen, dann hätten sie wunder gedacht, was ich getan habe und mir nicht geglaubt, dass ich nur aus Abenteuerlust als Mann verkleidet ging. Dann wäre das schöne Leben vorbei gewesen und es sollte doch erst anfangen. Von Mägdesprung ging es nach Nordhausen, nachdem sämtliche Orte durchgewalzt waren, dort machte ich Station und arbeitete bei einem Schlosser. Ich hatte zwar von diesem Handwerk keine Ahnung, aber Not bricht Eisen, ich gab mich einfach für einen Schlosser aus, da gerade Saison und Nachfrage nach Arbeitern war. Der Meister frug auch nicht nach den Papieren und schickte mich zur Aushilfe mit auf Bauten, ich fand mich sehr gut in allem zurecht und blieb 3 Monate dort. Es passte mir nur nicht, dass ich mich meinen Kollegen anschliessen und vieles mitmachen musste, auch mit tanzen gehen sollte. Die anderen wunderten sich, dass ich mir keine Braut wie sie, anschaffte und schliesslich halfen sie mir, dass ich eine bekam. Es war ja ein ganz niedliches Mädchen, aber im stillen dachte ich, was soll ich mit ihr anfangen, denn ein Mädchen will doch auch einmal einen Kuss haben und das getraute ich mir damals doch noch nicht. Es blieb mir aber nichts übrig und nun kommt das Schlimmste: sie fing nämlich vom Verloben an zu sprechen, da wusste ich, hier hat deine letzte Stunde geschlagen, also kurz und gut, ich verliess plötzlich meine sehr gut bezahlte Arbeit um weiter zu wandern. Gewiss war es unrecht, dass ich das arme Mädchen sitzen liess, aber es half doch nichts, heiraten hätte ich sie doch nicht können und so ging ich weiter, bis ich endlich nach Kassel kam. Ich hatte noch so viel Geld mir einen ordentlichen Gasthof auszusuchen, bis ich etwas geeignetes gefunden hatte. Zuerst bekam ich eine Stelle, auf der ich mit einem Handwagen herumfahren musste, das gefiel mir nicht, so arbeitete ich dort bloss 3 Wochen, dann versuchte ich es als Hausdiener, hatte aber das Pech mit einem anderen das Logis zu teilen, so dass auch hier meines Bleibens nicht länger als einen Monat war; dann nahm ich eine Stelle als Einseifer bei einem Friseur an, wo ich 2 Monate blieb, länger hielt ich es nicht aus, denn meine Hände waren durch die Feuchtigkeit ganz aufgesprungen. Als ich sah, dass ich in Kassel kein Glück hatte, schrieb ich an meine Mutter, dass ich nach Hause kommen würde, packte meine sieben Sachen und verschwand, nachdem ich mir vorher meine weiblichen Kleider aus Ballenstedt schicken liess, wo ich sie in Aufbewahrung gegeben hatte. Vor der Abreise zog ich mir nun nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die Mädchenkleider an, da meine Eltern doch nichts wissen sollten. Kaum aber war ich acht Tage zu Hause, da fing ich an, mich wieder sehr zu langweilen. Ich quälte meine Mutter, sie solle mich Maschinen- und Handplätten lernen lassen, was sie auch tat, denn sie dachte mich dadurch an Berlin zu fesseln, da ich doch ihr einziges Mädchen war. Aber als ich ausgelernt hatte, da kam mein Lehrmeister zu mir und fragte, ob ich viel Geld verdienen wolle, ich könne eine Stelle in Norwegen annehmen. Wer war froher als ich, da mir zu Hause beinahe schon die Decke auf den Kopf fiel also erklärte ich mich sofort bereit, fuhr noch an demselben Abend vom Stettiner Bahnhof nach Warnemünde und von dort mit dem Dampfer nach Schweden und weiter mit der Bahn. Meine liebe Mutter und mein Vater waren nicht schlecht erstaunt, als ich ihnen mitteilte, dass ich wieder abreisen wollte, ich erzählte ihnen aber nicht, wohin ich wollte, da sie mich sonst nicht fortgelassen hätten, auch war es gerade 14 Tage vor Weihnachten. Was kümmerten mich aber alle solche Rücksichten und Kleinigkeiten, es ging los. Als ich nun so allein die Nacht durchfuhr war mir doch ein bischen eigenartig zu Mute, aber das verging im Schlaf und als ich am Morgen erwachte und wir dann in Warnemünde den Dampfer bestiegen und ich das erste Mal das bewegte Meer sah, war mir sehr wohl zu Mute. Endlich langten wir in Malmö an, wo Aufenthalt genug war, dass ich mich ein wenig umsehen konnte, da ich Geld genug hatte, denn mein Chef hatte mir in Berlin 100 M. für die Reise gegeben. Als ich nun aber in Christiania war, da merkte ich, dass es doch nicht so leicht war wie ich es mir gedacht hatte, denn ich konnte kein Wort norwegisch; abgeholt hat mich auch niemand, da mein zukünftiger Chef glaubte, ich würde erst später emtreffen. Hätte ich nicht einen Brief gehabt, auf dem die Adresse stand, ich wüsste nicht, was ich hätte machen sollen, so zeigte ich dem Kutscher die Adresse und dann ging es weiter, ach war dort ein Schnee und Eis, denn es war gerade mitten im Winter und ein norwegischer Winter ist nicht so ohne. Also nun war ich junges Mädel Plättdirektrice in Christiania, konnte mich mit niemandem verständigen und da die meisten auch viel älter waren als ich und sich nichts von mir gefallen lassen wollten, auch weil sie einem Ausländer gegenüber misstrauisch waren, so war es in den ersten vier Wochen sehr schwer, aber dann lebte ich mich ein. Doch war mir das Leben zu gebunden und da ich ganz gut Geld verdient hatte, hielt ich es nicht länger als ein Jahr aus. Die Wanderlust kam wieder über mich und ich fuhr nach Drontheim. Aber dort das Leben in einer Wäscherei wieder zu beginnen, dazu fehlte mir die Neigung, also stracks Männerkleidung angezogen und nun los; zuerst sorgte ich für ein gutes Logis, was ich auch schnell bekam, da man verhältnismässig als Herr viel willkommener ist wie als Dame. Dann ging es auf die Suche nach einer Beschäftigung. Ich hatte Glück und fand Arbeit bei einem Barbier, zuerst wieder als Einseifer, ich war aber schon dreister und versuchte mich auch mit Rasieren, es ging tadellos; dort blieb ich vier Monate, da es mir in Trommen sehr gut gefiel. Auch hatte ich ein liebes Mädchen zur Freundin, die Tochter des Gefängniswärters, mit der ich die Zeit über viel verkehrte, denn sie hatte mich gern und ich muss gestehen ich sie auch, leider hatte aber unser beider Traum bald ein Ende, denn ein Kollege war hinter mein Geheimnis gekommen und verriet mich. Ich musste zu dem dortigen Polizeichef, der sich sehr für die Sache interessierte, auch meine Freundin bekam alles heraus, aber sie war mir nicht böse, wie ich zuerst vermutete, sondern schloss sich nur noch fester an mich. Wir sind sogar bis auf den heutigen Tag noch Freunde, auch lernte ich nun ihre Eltern kennen, da mich der Polizeichef dort unterbrachte. Er wollte mich gern als Detektiv behalten, was mir auch bei meinen späteren Wanderungen noch öfter angeboten wurde. Aber alle Versprechungen nützten nichts, es trieb mich weiter und so fuhr ich nach Randefjord, einem trüben Nest, da hielt es mich nicht lange, dann weiter nach Skien; blieb dort auch bloss 2 Monate, indem ich bei einem Geldschrankschlosser Arbeit fand, aber das Transportieren der Schränke war mir ein bischen zu schwer, die übrige Arbeit nicht. Ich ging nun nach Christiansund, dort hatte ich mehr Glück, bekam Arbeit in einer mechanischen Werkstatt und blieb dort von Februar bis Juli. Auch dort schaffte ich mir eine kleine Freundin an, denn es steht ja schon in der Bibel: es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, auch hatte ich nicht Lust mit meinen Kollegen umzugehen, denn es waren meist ältere verheiratete Männer und die unverheirateten waren mir nicht sympathisch, so dass es schon das Beste war, ich schloss mich wieder an ein junges Mädchen an. Aber als nun der Sommer kam and die Sonne immer so schön in die dumpfe Werkstatt hineinlachte, da hielt es mich nicht länger. Ich schnürte schnell mein Bündel. Ich hatte schon immer viel von dem Walfischfang gehört, schwärmte sehr davon und als ich nun in der Zeitung las, dass junge tüchtige Burschen für den Walfischfang gesucht wurden, machte ich mich auf die Beine nach Arendal, dort meldete ich mich bei einem Heuerbaas und kam auf einen Walfischfänger. Ach was war das für ein elender Kasten! wir waren dort zu acht Mann in einer Mannschaftskabine eingepfercht, aber es half nichts, ich wollte doch den Walfischfang kennen lernen. Am 26. Juli fuhren wir ab. Die Sonne schien so heiter in Arendal, aber als wir 14 Tage unterwegs waren, da waren wir im strengsten Winter, zur Abwechslung froren wir auch einmal auf acht Tage im Eismeer fest; waschen und sauber halten konnten wir uns wegen der Kälte schon gar nicht mehr. Endlich ging der Fang los, wir hatten Glück, brachten viele Walfische zur Strecke und es wäre alles ganz gut und schön gewesen, wenn uns bloss nicht die Läuse so gequält hätten. Denn das kann ich sagen, ekeln darf man sich auf solchem Walfischfänger nicht. Bald hatten wir kein frisches Fleisch mehr und nun ging es auf die Renntierjagd; habe ich schon einmal etwas schönes gegessen, so war es damals das Renntierfleisch und der selbst geröstete Schinken, auch erlegte unser Kapitän einen Eisbären; so wäre das Leben herrlich gewesen, wenn es bloss nicht so kalt und so furchtbar schmutzig gewesen wäre. Was ich in der Zeit ausgehalten habe, ist nicht leicht zu beschreiben und dabei immer noch die Angst, dass mein Geschlecht entdeckt würde. Im Frühjahr kamen wir wieder nach Hause. Da packte mich förmlich das Heimweh; da ich Geld hatte, schaffte ich mir alles vollständig neu an und fuhr nach Deutschland. Natürlich bezahlte ich nicht, sondern arbeitete mich als Steward nach Hamburg herüber, denn da ich nun einmal auf einem Schiff gewesen war, wollte ich auch das ausnutzen und das Geld sparen* So kam ich wieder nach Berlin, was brachte ich für Erfahrungen mit, ich erzählte aber nicht viel, denn wenn meine Eltern das alles gewusst hätten, sie hätten mich nicht mehr fortgelassen. Aber wie der Mensch nun einmal ist, knapp war ich vier Wochen zu Hause, da trieb mich schon die Sehnsucht immer an die Havel heraus, nach Schildhorn, das Wasser zog mich furchtbar und im Oktober hielt ich es gar nicht mehr aus, es drängte mich mit Gewalt fort. Ich suchte einen Vermieter auf und vermietete mich nach London, wohin ich freie Reise hatte, mich aber auf 2 Jahre verpflichten musste. Ich tat dies auch, hatte aber gleich den Gedanken, mich dort so schnell wie möglich wieder frei zu machen, Die Hauptsache war, dass ich fortkam, das andere würde sich dann schon finden. Also zog ich frohen Mute von dannen, kam auch wohl und munter nach Hamburg und von da nach einer stürmischen Seefahrt nach London. Doch nun. kommt etwas, was ich in meinem Leben nicht vergessen werde, ich traf dort, wo ich in Stellung gehen sollte, meine angeführte Braut aus dem Harz, dieselbe der ich ausgerückt war, kurz bevor ich mich mit ihr verloben sollte. Diese traf ich dort als Frau des Hauses, trotz der Mädchenkleider erkannte sie mich und so musste ich jetzt alles auf klären. Mit ihrem Einverständnis lösten wir unseren Kontrakt und ich nahm eine Stelle in einem englischen Badeort Skarbourough als Zimmerinspektrice an, wo ich die Saison über blieb. Ich hielt es aber in den Frauenkleidern schon gar nicht mehr aus und als ich eines Tages hörte, dass es in England ein Schiff gäbe, dessen Personal nur aus Frauen bestände und auch sron Frauen geführt wird, hielt es mich nicht länger. Ich dachte, was die können kann ich schon lange, aber als Frau hatte ich keine Lust und so fuhr ich denn wieder nach London, schaffte mir Männerkleider an und richtete meine Gedanken darauf so bald als möglich in eine Steuermannsschule aufgenommen zu werden. Es gelang mir auch. Ich schlug mich recht und schlecht das halbe Jahr durch, indem ich deutsche Stunden gab und deutsche Korrespondenz schrieb, im April bestand ich dann mein Examen und nun ging das Suchen nach einer passenden Stelle los. Es bot sich auch bald eine solche auf einem englischen Steamer als vierter Steuermann. Diese nahm ich an und ging auf die Fahrt, welche über ein Jahr dauerte. Zuerst nach Japan (Yokohama), von da nach Brasilien (Rio de Janeiro), von dort nach Nordamerika (St. Francisco) und von da nach Hamburg, wo ich abmunsterte, da ich Sehnsucht nach Hause bekam. Hamburg ist ein schönes Städtchen, aber ich wünschte, ich hätte es damals nicht gesehen, denn da lernte ich meinen Mann kennen und beging die grosse Dummheit mich zu verheiraten. Zuerst ging alles ganz sc ön und gut. Ich drückte die Wanderlust herunter, schon um des Kindes wegen, aber als mein Mann leichtsinnig wurde, gab ich meiner Mutter mein Kind und ging fort. Damit mich mein Mann nicht finden sollte, schaffte ich mir wieder Männerkleidung an und da ich mich nicht mehr so stark fühlte als Schlosser zu arbeiten, nahm ich mir das Malerhandwerk an, von dem ich schon auf dem Schiff etwas gelernt hatte. Es gelang mii auch ganz gut. Ich ging nach Frankfurt a. O., arbeitete dort 3 Monate, dann nach Küstrin, blieb dort 4 Monate, aber inzwischen war die Arbeit ausgegangen, weil es zu kalt wurde. Da fing ich dann in Küstrin-Neustadt in einer Kartoffelmehlfabrik zu arbeiten an, was schwer war, aber es musste gehen, wenigstens den Winter durch. Im Frühjahr bekam ich dort einen Gestellungsschein, da hätte wohl der Oberstabsarzt schöne Augen gemacht, wenn ich zur Stellung gekommen wäre, so zog ich es vor, zu retirieren und steckte mich schnell wieder in Frauenkleidern. Sonst hätte es wer weiss was für Aufsehen gegeben, denn in solcher kleinen Stadt sind die Leute etwas beschränkt, da können sie sich gar nicht vorstellen, dass es so was auf der Welt gibt. Also fuhr ich knall und fall nach Berlin, hielt es aber als solide Frau, die zu Hause wirtschaften sollte, nicht aus. Ich mietete mir eine Wohnung und suchte mir in Männerkleidern Arbeit als Maler. Fand auch welche, verdiente ganz gut, beging aber die Torheit mir wieder eine Braut anzuschaffen und noch dazu fiel diesmal meine Wahl auf eine verheiratete Frau, die von ihrem Mann getrennt lebte und bei ihrer Mutter wohnte. Sechs Wochen lang ging alles gut und schön, da eines Tages sind wir gerade beim Fassadenstreichen und ich sitze ganz oben auf dem Gerüst, da will mich der Kriminalbeamte holen; „nanu“, sage ich, da ich das doch nicht gewohnt war und mir die Polizei doch noch niemals etwas angetan hatte, ich war mir doch auch nichts bewusst, ich „türmte“ also mit nach nach dem Alexanderplatz, da sagte der Beamte zu mir: „Nun Kleiner bekommst Du aber etwas heraus.“ Ich wurde immer neugieriger und bekam endlich zu hören, dass ich auf Ehebruch verklagt sei. Der Mann meiner sogenannten Braut war eifersüchtig geworden und hatte mich angezeigt, dass ich mit seiner Frau Ehebruch triebe, aber sie können mir glauben, es war nicht wahr, denn ich wüsste wirklich nicht wie ich es hätte anfangen sollen, kurz ich war unschuldig und der Mann musste mit einer langen Nase abziehen. Ich aber hatte mich dadurch unnütz in meiner Arbeit versäumt und warf sie nun ganz hin, da ich die Lust verloren hatte, fing aber bald wieder in einer ärztlichen Instrumentenfabrik an, wo ich eine Weile blieb, bis mir Berlin wieder über wurde und ich in die Welt ging. Zuerst machte ich als reisender Maler ins Mecklenburgische, klapperte dort alles ab und landete in Hamburg, wo ich dann zur Abwechselung wieder Frauenkleider anzog, da eine Stewardess verlangt wurde. Ich verheuerte mich als solche und machte erst die Orientfahrt mit. Dann munsterte ich in Hamburg ab und ging als Stewardess auf einen Westafrikaner, einen Wörmanndampfer, mit Endstation Duala; nach ein paar Reisen wieder auf einen Ostafrikaner, der nach Zansibar fuhr. Dann hatte ich keine Lust mehr, munsterte ab und fuhr nach Hause zu meiner Mutter, wo ich mir fest vor genommen hatte zu bleiben; aber ich glaube, sie hätte mich anschmieden können, ich hätte mich doch abgerissen und wäre wieder losgegangen.“

Status praesens: Helene N. ist mittelgross, die Körperlinien sind namentlich an den Oberarmen und den Oberschenkeln mehr abgeflacht als rund. Hände und Füsse ziemlich kräftig, Schritte fest und schnell; Muskeln gut entwickelt, Haut glatt, Brüste klein, Warzenhof gross und dunkel. Aeussere Bildungsanomalien an den Genitalien bestehen nicht, Bartflaum nicht vorhanden. Das dunkelblonde dichte Haupthaar trägt sie kurz und gescheitelt. Kehlkopf tritt nicht hervor, Stimme einfach, nicht hoch. Sie raucht und trinkt ziemlich viel, verträgt beides gut, ihr Charakter zeigt eine merkwürdige Mischung von zähem Willen und starker Unbeständigkeit; sie liebt körperliche Arbeit und jede Art von Sport sehr! Kleidung, die augenblicklich weiblich ist, zeichnet sich durch Einfachheit aus. Jeder Schmuck, der ihr zuwider ist, fehlt. Wenn sie in Männerkleidern ist oder wenigstens männliche Mützen, Kragen, Unterwäsche und Stiefel trägt, fühlt sie sich leicht, wohl und leistungsfähig, in Frauenkleidern beengt und unfrei. Eine besondere Vorliebe hatte sie für die blaue Farbe, was wohl mit ihrer Neigung zum Seemannsberuf zusammenhängt. Ihre Intelligenz ist eine gute und rege, auffallend sogar wenn man ihr einfaches Herkommen und ihre Erziehung in Betracht zieht. Auf die Frage für welche bekanntere Persönlichkeit sie sich besonders interessiert, antwortet sie prompt „Wagner“. Bezüglich ihres Geschlechtslebens gibt sie an, dass ihr Trieb zwischen beiden Geschlechtern gewechselt habe; sexuelle Träume hätten sich allerdings auf Frauen erstreckt, wobei sie dann ganz als Mann empfunden hätte. Doch seien ihr Männer sexuell nicht unsympatisch, im ganzen scheint ihr sexueller Betätigungsdrang aber sehr gering zu sein, jedenfalls tritt er ganz und gar zurück hinter dem dringenden Wunsch Mann zu sein, als Mann zu gehen und als Mann zu leben. Sie ist sich dabei aber stets deutlich bewusst in Wirklichkeit Frau zu sein. Ihre Kinder hat sie sehr lieb, auch ihren Gatten mochte sie gut leiden, aber die Ehe selbst betrachtet sie für sich als eine Fessel, sie hätte schon oft bereut, sich verheiratet zu haben.

Anmerkungen

einige Jahre vor 1910 in der Berliner Presse einige Berichte

Quellen

Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910, Fall 15, S. 116-126