Herr D (Hirschfeld 4)

Wann erwähnt: 1910

Namen(n): M: Herr D / W:

Lebensdaten: 1875 (ca.) geboren

Beruf: Kaufmann

Ort(e): nicht genannt

Fallbeschreibung

Originaltext Hirschfeld

Fall IV.

Herr D., Kaufmann, in den Dreissigern. Triebabweichungen oder Zeichen von Degeneration in der Verwandschaft sind nicht nachweisbar. Die Kindheitsentwicklung verlief normal; nur wurde das Sprechen etwas spät erlernt. Beim Schulunterricht interessierte ihn besonders Zeichnen und Geographie. Geschlechtsreife mit 14 1/2 Jahren, Stimmwechsel mit 16, Bartwuchs mit 20, erste geschlechtliche Regung in den Zwanzigern.

Status praesens: Figur gross, schlank, verhältnismässig mager. Hände und Füsse von mittlerer Grösse. Muskulatur schwach entwickelt; ausser zu Fusstouren besteht keine sonderliche Neigung zum Sport. Schritte klein, leichtes Drehen in den Hüften. Haut glatt, weiss. Haupthaar von mittlerer Stärke, Bartwuchs unbedeutend, geringe Körperbehaarung. Schmerzempfindlichkeit ziemlich gross; errötet leicht. Gesamteindruck des Gesichts absolut männlich. Kehlkopf wenig hervortretend; Stimme laut, Mittellage, Neigung zu Fisteltönen.

Besitzt ein recht gleichmässiges Temperament, ist ordnungsliebend, neigt aber zur Bequemlichkeit, raucht gar nicht, trinkt sehr mässig. Gedächtnis gut, Phantasie lebhaft; sein Ideal aus der Geschichte ist Schiller. Möchte Konfektionär oder Damenfriseur sein.

Vita sexualis: Die spät erwachende Libido war immer auf das Weib gerichtet. Hat nur koitiert und sich nie homosexuell betätigt; dennoch erklärt er den Verkehr mit beiden Geschlechtern für möglich; er möchte einen Mann lieben oder von einem solchen geliebt werden, der so ganz den „Typus Mann“ vertritt. Der Gesohlechtstrieb soll bis zum 26. Jahre völlig beherrschbar gewesen und Masturbation nie getrieben worden sein. Er hat geheiratet und führt ein „ziemlich befriedigendes“ Eheleben. Hat einen Knaben, an dem bisher nichts Abnormes bemerkt wurde.

Aus seinen vielfachen biographischen Niederschriften entnehmen wir noch folgende Einzelheiten:

„Es war zur Zeit meiner Konfirmation, als ich auf einem Familienfest etwas hörte, das mein ganzes Denken gefangen nahm. Eine Freundin meiner Mutter erzählte uns, ihr Sohn, ein junger Seminarist, sei eines Tages in Damenkleidern angekommen und so unkenntlich gewesen, dass sowohl sie als ihr Gatte längere Zeit mit ihm sprachen, ohne zu ahnen, wer er sei.“

„Die Vorstellung von dieser Szene reizte mich so, dass ich meine Mutter bestürmte, mir ein Aehnliches zu erlauben. Allein, es wurde nichts daraus. Als jedoch bald darauf meine Eltern Sonntags ausgingen und ich das Haus zu hüten hatte, zog ich mir heimlich das cremefarbene Damastkleid meiner Mutter an. Bei dieser Beschäftigung bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Erektion. Ich hatte ein naives Gefühl, dies sei eine „Sünde“ und unterliess in der Folge das Anziehn der Kleider. Dafür legte ich indessen öfters heimlich Schmuck und Handschuhe an und sammelte Ausschnitte aus Modejournalen.“

„Eines Tages las ich von einem amerikanischen Offizier, der die entzückendsten Damentoiletten der ganzen Stadt besässe und sich nur im Dienst als Mann bewegte. Ein andermal stand in der Zeitung, das Tragen von Schmucksachen nehme in Berlin überhand; man könne Boutons und Damenringe von erlesenem Geschmack sogar bei Herren wahrnehmen. In einem ändern Blatt beklagte sich eine Dame über die Mode der Armbänder bei der Männerwelt; sie beschrieb sogar ein wundervolles Perlenhalsband, das sie am Halse eines Mannes gesehen hätte; ferner trüge ein Herr eine reizende Muffe, um seine zarten Hände vor der Kälte zu schützen. Solche Notizen waren damals geeignet, mein ganzes Sein in fiebernde Erregung zu versetzen, wie sie auch heute noch unauslöschlich fest in mir haften.“

„Später wurde ich ein begeistertes Mitglied des christlichen Jünglingsvereins und schlug mir im Verkehr mit Gleichaltrigen solche Phantasien gewaltsam aus dem Sinn.“

„Im Alter von etwa 21 Jahren lernte ich meine jetzige Frau kennen. Nie hatte ich vordem zu einem lebenden weibliehen Wesen eine Zuneigung verspürt; fasste aber, ganz im Gegensatz zu meinem sonst barschen Wesen, augenblicklich eine herzliche Liebe zu ihr, sodass der Wunsch aufstieg, vereint mit ihr durchs Leben zu gehn. Aber, teils aus Gründen meines (ziemlich entschieden zur Schau getragenen) Christentums, teils wegen des Keuschheitsgelübdes, bewahrte ich meiner Braut gegenüber sechs Jahre hindurch strengste Zurückhaltung; ja noch mehr, mir kam garnicht der Gedanke, meiner Geliebten je so etwas anzubieten.“

„Wir vermählten uns endlich. Der Koitus, der mir vollständig neu war, gelang während der ersten drei Wochen nicht, sodass ich einen mir wohlgesinnten Pfarrer aufsuchte, um seinen Rat in der Angelegenheit zu erfragen. Er erklärte mir indessen, er selbst sei Junggeselle und wisse mit den Dingen nicht Bescheid; ich müsse zu einem Arzt gehen.”

„Wir waren, meine Frau und ich, sehr betrübt, dass unsere allabendlichen Bemühungen, die oft die halbe Nacht beanspruchten, von so negativem Erfolge gekrönt wurden. Da blätterten wir eines Abends in Modebildern umher und besprachen aufs eifrigste die Kostümfrage, die ja für jede Frau eine wichtige Sorge ist. Ich fühlte mich hierbei seltsam angeregt, und lenkte meine Gedanken unwillkürlich auch während des folgenden Koitus Versuches auf den Gegenstand meiner ehemaligen Lieblingsträumerei. Dabei fühlte ich endlich eine heftige Ejakulation.“

„Damals begann ich zu ahnen, wie es um mich steht. Heute weiss ich es; ich weiss, dass mir nicht körperliche Reize, nicht der Liebeskuss die erste Ejakulation zuzogen, sondern lediglich der intensive Wunsch, Weib zu sein, weiblich zu fühlen und zu denken. Von Freunden hörte ich es hunderte von Malen, sie brauchten nur ein reizvolles Geschöpf oder auch nur einen weiblichen Arm oder Busen zu sehn, um sofort „hingerissen“ zu sein. Nichts von alledem bei mir.“

„Seit dieser Zeit nun kann ich keinen Beischlaf ausüben, ohne mich selbst dabei als Weib vorzustellen. Wenn meine Frau in coitu ihre Nägel in meine Ohrläppchen presst und so in mir das Gefühl hervorruft, als besässe ich Ohrgehänge, oder wenn sie ihre Arme um meine Taille legt, und mich immer stärker an sich drückt, sodass ich das Gefühl habe, stark geschnürt zu sein: dann bleibt sicher die Erektion nicht aus.“

„Während ich sonst also meiner Neigung verhältnismässig wenig nachgebe, lebe und webe ich als Weib hauptsächlich in der Phantasie während des Koitus. Ich sehe mich in den mannigfachsten Toiletten, angefangen vom Pagenkostüm, das mir noch als das unantastbarste, immerhin doch noch den Mann darstellende Kleid, erscheint. Als ein Page mit allen möglichen, mehr ins Weibliche spielenden Nuancen* möchte ich Konzerte, Theater und erste Restaurants besuchen. Ich denke mir einen Gehrock à la Roccocco mit Spitzenmanschetten, kurzen, seidenen Beinkleidern, durchbrochenen Strümpfen und feinen Schuhen; dazu kostbares Ohr-, Arm- und Fingergeschmeide zum Ausputz des Ganzen. So für die Oeffentlichkeit. “

Fürs Haus, sogar zum Besuch bei Bekannten, möchte ich ganz Weib sein und begehre richtige Haus-, Strassen-, Diner- und Ballkleidung, kurz: alles, was zum Staat einer richtigen Dame gehört.“

„Mein Empfinden erscheint mir durchaus weiblich. Rauchen, Trinken, Kartenspielen u. dgl. sind mir verhasst. Ich mag keine schmutzige Lektüre, keine gemeinen Redensarten und geniesse den Ruf, überhaupt kein richtiger Mann zu sein, da man mich riesig naiv findet und zweitens sich hüten muss, die unter Herren üblichen „Zotereien“ in meiner Gegenwart vorzubringen. Im Geschäft heisst’s allgemein: an Ihrem Block gehts am alleranständigsten zu, da Sie jede zweideutige Bemerkung gleich rügen.“

„Mein sexueller Wunsch ist nicht das Weibsein des Damenimitators, sondern mein Ideal wäre, ein physiologisch echtes Liebesleben als Weib mit einem Manne zusammen zu führen. Ein Herr, der mich öfter auf der Strassenbahn fixierte, spielt hier eine bedeutsame Rolle in meinen Gedanken. Sein Aeusseres faszinierte mich. Er war von meiner Figur, elegant wie ein ehemaliger Offizier, seine feine Kleidung gut anschliessend, sein Schnurrbart wohlgepflegt, sein keineswegs zu grosses Auge voller Ausdruck.“

„Vor einiger Zeit klärte mich ein Freund über die Art des homosexuellen Empfindens auf. Ich gestehe offen, die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, die sich da meiner Phantasie eröffnete, hat etwas so bezauberndes, wie ich mir einen heterosexuellen Verkehr garnicht vorstellen könnte. (Hoc scribens jam sentio erectionem penis mei antea flaccidi.) Mir kommt es vor, als würde mich keine sexuelle Handlung mit einem Manne ekeln. Viros nonnunquam mentulam in os feminarum immittere, quasi ad abluendum, saepius mihi relatum est. Ego libenter os meum praebere veilem, si amator aliquis id me posceret. Equidem femora latissime aperirem, si amicus libidine vera permotus me futuere vellet. Manchmal schon träumte ich so, und es war herrlich, „sein Weib“ zu sein. Er liebte mich, gab mir, woran mein Herz hängt und machte mich zum ersten Mal in meinem Leben zu einem glücklichen Geschöpf. Würde er, wie es manche Männer mit ihren Weibern zu tun pflegen, mich im Zimmer nackt umhergehn lassen, auch dies würde ich ihm zu Gefallen tun; nur müssten meine Füsse in zierlichen Stiefeletten stecken, und sonst in jeder Hinsicht das Dekorum einer Dame gewahrt werden.

Diese letztere Stelle schrieb Herr D. unter der momentanen Wirkung einer erotischen Phantasie. Später flauten diese ldeen bei ihm völlig ab.

Nachzutragen wäre noch, dass er immer ein goldenes Armband, zeitweilig auch ein Korsett trägt. Nach seinen Handarbeiten gefragt, gibt er an, soeben seien fertig geworden „3 ganze Hemdpassen mit Achselstücken und 2 Paar Beinkleidansätze aus feinem Garn.“

Quellen

Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910, Fall 4, S. 26-30