Neue Dokumente zu Dora Richter gefunden – und ihr späteres Leben aufgeklärt

Dora Richter, vermutlich im Institut für Sexualwissenschaft, Quelle: Merlet, Janine. 1931. Vénus et Mercure. Paris.

Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ich den Taufeintrag der trans* Pionierin Dora Richter aufspüren konnte. Als erste namentlich bekannte trans Frau, die sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzog, hat sie Geschichte geschrieben.

Hier habe ich die Geschichte der Entdeckung des Taufeintrags aufgeschrieben: https://lili-elbe.de/blog/2023/04/dora-richter-taufeintrag/

Anmerkungen vorab

  • Doras bei der Geburt zugewiesener Name wird im nachfolgenden Text bewusst nicht genannt. Er spielt hier keine Rolle.
  • Im Text werden die deutschen Namen von tschechischen Orten verwendet, da die Region damals deutschsprachig geprägt war. Die tschechischen Ortsnamen sind bei der ersten Erwähnung der Orte zusätzlich angegeben.

Neue Spuren nach dem Fund des Taufeintrags

Nachdem ich Anfang 2023 Dora Richters Taufeintrag fand, war es naheliegend, dass ich mich für weitere Recherchen in Richtung Tschechien orientieren sollte. Dora war Bürgerin der damaligen Tschechoslowakei, also müssten amtliche Dokumente am ehesten dort zu finden sein.

Ausgerüstet mit dem nun ermitteltem genauen Geburtsdatum (16. April 1892) und dem Geburtsort (Seifen, heute Ryžovna) stellte ich die erste Anfrage an das Nationalarchiv der Tschechischen Republik, das tatsächlich etwas Spannendes im Bestand finden konnte. Dort erhielt ich Hinweise auf weitere tschechische Archive, die möglicherweise Dokumente zu Dora Richter aufbewahrten. Diese kontaktierte ich anschließend. Und auch diese Archive fanden Archivgut zu Dora Richter – die bis ins Jahr 1939 reichten.

Am schwierigsten blieb es aber, herauszufinden, ob Dora die NS-Zeit überlebte. Ich folgte winzigen Spuren im Internet, versuchte Personen aus Doras Heimatregion zu kontaktieren und besuchte ein kleines Museum von Vertriebenen, alles ohne Erfolg. Ich war sogar in Seifen und Umgebung auf Spurensuche, was sehr interessant war, aber ebenfalls keine neuen Erkenntnisse zu Tage brachte. Erst eine Anfrage beim DRK-Suchdienst konnte Licht ins Dunkel bringen.

Die Fundstücke möchte ich nachfolgend chronologisch sortiert vorstellen.

1925: Antrag auf »doppelten« Pass

Antrag für Reisepass (Ausschnitt)

Im April 1925 stellt Dora beim tschechoslowakischen Konsulat in Berlin einen Antrag auf einen Pass mit dem weiblichen Namen »Dora Richter«. Weil der Fall so außergewöhnlich ist und das Konsulat nicht weiß, wie es damit umgehen soll, wird der Antrag an das tschechoslowakische Innenministerium in Prag weitergeleitet.

Besonders bemerkenswert sind mehrere Aspekte.

Dora beantragt nicht einen Pass, sondern eigentlich zwei: Einen auf den Namen Dora Richter für den Aufenthalt in Deutschland (Dora lebte 1925 in Berlin). Und einen auf den männlichen Namen für Besuche in der Tschechoslowakei, da die Eltern Dora weiterhin als Mann ansehen und Dora daher Unannehmlichkeiten vermeiden möchte.

Der Korrespondenz liegt die Abschrift eines Gutachten des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld bei (Gutachten erstellt im April 1924, die Abschrift im März 1925). Dieses Gutachten verwendet die damals übliche Taktik: Dora Richter wird als intersexuell beschrieben, und bei der Verweigerung einer Behandlung bestünde Suizidgefahr.

Außerdem wird eine Erlaubnis der deutschen Polizei erwähnt, Frauenkleidung zu tragen, d.h. Dora hat vermutlich einen sogenannten »Transvestitenschein« erhalten.

Das Innenministerium in Prag lehnt im Oktober 1925 schließlich den Passantrag ab, da bislang keine standesamtliche Namensänderung für Dora vorgenommen wurde.

Fundorte: Archiv des tschechischen Außenministeriums (Korrespondenz und Gutachten) und Nationalarchiv Prag (*Praha) (Kopie der Korrespondenz)*

Volkszählung 1930: Doras Familie in Seifen

Die 1918 neu gegründete Tschechoslowakei führt 1921 und 1930 Volkszählungen durch. In der Volkszählung von 1930 taucht Dora nicht in Seifen auf (sie lebt zu dem Zeitpunkt in Berlin), aber Mitglieder ihrer Familie:

In Seifen Nr. 12 (Doras Geburtshaus) leben nach wie vor ihre Eltern Josef und Antonia Richter, außerdem die jüngeren Geschwister Hermann (geb. 1899) und Ida (geb. 1901), beide ledig. Ida hat außerdem einen unehelichen Sohn Rudolf, der mit im Haus lebt. Hausinhaber ist Doras Vater Josef Richter.

Ebenfalls in Haus Nr. 12 in einer zweiten Wohnung lebt Doras älterer Bruder Josef (Florian) (geb. 1890) mit seiner Ehefrau Julia und ihren vier Kindern Anton, Rudolf, Oswald und Otto.

Weitere Familienmitglieder von Dora wohnen in Seifen Nr. 36: Ihre jüngere Schwester Rosa (geb. 1894), verheiratet mit Albert Kraus, sowie die zwei Kinder Hugo und Erna. Bei Ihnen lebt außerdem Albert Kraus' verwitwete Mutter Emma. Hausinhaber ist Albert Kraus.

In einer zweiten Wohnung in Seifen Nr. 36 wohnt eine Familie Günl, geboren in Zwittermühl (heute Háje), vermutlich nicht verwandt mit Doras Familie.

Fundort: Nationalarchiv Prag

1934: Namensänderung

Im Februar 1934 ersucht Dora Richter die Änderung ihres Namens. Der Präsident des Landes Böhmen (Teil der Tschechoslowakei) in Prag genehmigt die Namensänderung im April 1934, Dora erhält nun offiziell den Namen »Dora Rudolfa Richterova« anstelle des bisherigen Namens.

Zugleich ordnet der Landespräsident an, dass die Namensänderung in den entsprechenden Matrikeln (Kirchenbücher bzw. standesamtliche Register) und auf dem Heimatschein (dazu später mehr) einzutragen ist. Genau dieses Schreiben findet sich auch im Anhang des Taufbuchs von Seifen, das ich 2023 aufspüren konnte.

Fundort: Staatliches Regionalarchiv Pilsen (Plzeň), Bezirksarchiv Karlsbad (Karlovy Vary)

1934: Heimatschein

Heimatschein (Ausschnitt)

Ein »Heimatschein« war in Österreich-Ungarn ein Dokument, welches das sogenannte »Heimatrecht« regelte. Mit dem Heimatrecht konnte ein Anspruch auf ungestörten Aufenthalt, das Wahlrecht und auf soziale Versorgung im Falle von Armut oder Not geltend gemacht werden. Die Tschechoslowakei übernahm 1918 in weiten Teile die bisherigen österreichischen Rechtsvorschriften, so auch das Heimatrecht.

Nach Doras Namensänderung im April 1934 wird auch ihr Heimatschein geändert, und er ist uns erhalten geblieben. Im Mai 1934 wird dementsprechend ein neuer Heimatschein ausgestellt, der uns verrät, dass Dora als »Hausgehilfin« beschäftigt und ledig ist. Dieser Heimatschein ermöglicht es Dora vermutlich, wieder in Seifen zu leben.

Fundort: Staatliches Regionalarchiv Pilsen, Bezirksarchiv Karlsbad

Volkszählung 1939: Dora lebt wieder in Seifen!

Im Mai 1939 führt Deutschland (einschließlich dem annektierten Österreich und dem sogenannten „Sudetenland“ in der besetzten Tschechoslowakei) eine Volkszählung durch. Bei dieser Volkszählung nun taucht Dora wieder in Seifen auf!

In Doras Geburtshaus Seifen Nr. 12 hat sich die Familie gegenüber 1930 verändert. Die Eltern leben nicht mehr, Doras Vater Josef ist 1931 verstorben, ihre Mutter Antonia 1938.

Dafür ist Idas Familie gewachsen. Sie hat 1934 Moritz Beer geheiratet und dessen Familiennamen angenommen. Zum (unehelichen) Sohn Rudolf sind noch die (ehelichen) Töchter Waltraud und Irene dazu gekommen. Ida Beer gehört auch das Haus.

Im Haus Nr. 36 lebt nach wie vor Doras jüngere Schwester Rosa, verheiratet mit Albert Kraus, der weiterhin Hausinhaber ist. Mit ihnen wohnen ebenfalls die Kinder, inzwischen ist noch Werner dazugekommen.

Volkszählung 1939 (Ausschnitt)

Dora taucht hingegen an einer anderen Adresse in Seifen auf: In Haus Nr. 61! Dort lebte früher der Bäckermeister Emil Harzer (ein Onkel von Dora), vermutlich genau der, bei dem Dora die Bäckerlehre absolvierte. Ein Inhaber des Hauses wird nicht genannt, aber Dora ist Haushaltungsvorstand. Sie ist ledig, in Heimarbeit als Spitzenklöpplerin beschäftigt. Ihre Arbeitgeberin ist Berta Kolitsch aus Hengstererben (heute Hřebečná), die mit Spitzen handelt.

Ebenfalls im Haus lebt Doras jüngerer Bruder Hermann (geb. 1899), weiterhin ledig.

Fundort: Nationalarchiv Prag

1946: Vertreibung aus der Tschechoslowakei

Im Seifener Taufbuch gibt es bereits ein Indiz, dass Dora die Kriegszeit überlebt hat: Erst 1946 wird die Namensänderung von 1934 tatsächlich im Taufeintrag ergänzt. Vermutlich hat das folgenden Hintergrund: Wie auch viele andere Menschen ahnt Dora, dass sie bald ihre Heimat verlassen muss. Zur Vorbereitung gehört unter anderem die Beschaffung von Dokumenten, die bei der Neuregistrierung in Deutschland oder bei der Anerkennung von Ansprüchen von Bedeutung sein könnten. Und so geht Dora wohl zum örtlichen Pfarrer, um sich einen Taufschein ausstellen zu lassen.

Am 01. Mai 1946 ist es dann soweit: Dora muss Seifen verlassen (wahrscheinlich zusammen mit den meisten anderen Bewohner*innen des Dorfes). Dieses Datum nennt zumindest ein Vertriebenenausweis für Dora Richter, zusammen mit der neuen Adresse: Allersberg 377 im Kreis Hilpoltstein (Regierungsbezirk Mittelfranken in Bayern). Ebenfalls existiert eine in Hilpoltstein ausgestellte Flüchtlingskarte, laut derer Doras Familienstand »ledig« ist, und ihr Beruf »Klöpplerin«.

Fundorte: Taufbuch Seifen, Dokumente des DRK-Suchdiensts

1946 bis 1966: Leben in Allersberg

Markt Allersberg

Nachdem Dora Richter im fränkischen Allersberg angekommen ist, bleibt sie offenbar dort. Die ursprüngliche Adresse »377« ist wohl der Standort provisorischer Flüchtlingsbaracken (das ist noch zu recherchieren), die Dora bald verlässt. Die folgenden weiteren Adressen sind für sie in der Allersberger Meldekartei vermerkt: Neumarkter Straße 18, Freystädter Straße 47 und Marktplatz 10. An den ersten beiden Adressen stehen heute modernere Gebäude, am Marktplatz 10 befand sich früher das Allersberger Spital, das später in einen Neubau am Rand der Gemeinde umzog.

Das Spital ist offenbar Doras letzte Wohnstatt, in dieser Pflegeeinrichtung verbringt sie ihren Lebensabend.

Am 26. April 1966 stirbt Dora Richter schließlich in Allersberg, sie wird auf dem dortigen Friedhof beigesetzt. 1998, also 32 Jahre später, wird das Grab wieder an den Markt Allersberg zurückgegeben.

Fundorte: Dokumente des DRK-Suchdienstes, Einwohnermeldeamt Allersberg

Und heute? Verwehte Spuren

Wenn ich all die neuen Spuren zusammen anschaue, ist das Fazit zunächst großartig: Dora Richter hat es tatsächlich geschafft, all die Wirren und Katastrophen ihrer Zeit zu überleben! Es ist ihr gelungen, nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten aus Deutschland zu fliehen und wieder in ihr abgelegenes Heimatdorf in Böhmen zu ziehen. Dort überlebt sie die ganze Kriegszeit. Und anschließend übersteht sie auch die Vertreibung und findet als Flüchtling ein neues Zuhause in der Nähe von Nürnberg. Ihr sind noch weitere 20 Jahre vergönnt, sie wird 74 Jahre alt!

Und doch sind alle ihre Spuren verweht: Ihr Heimatdorf Seifen existiert nicht mehr, von ungefähr 600 Menschen, die zu Doras Geburt dort lebten, blieben nach der Vertreibung der Deutschen immer weniger übrig. 2021 gab es einen einzigen Einwohner, und es stehen noch ungefähr drei Häuser.

Das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, wo Dora Unterschlupf fand, wurde 1933 zerstört, das Gebäude des Instituts ging in der Schlacht um Berlin 1945 unter. Heute erinnert nichts als eine Gedenktafel an das Institut. Die noch bekannte Adresse im Jahr 1934 von Dora in der Berliner Motzstraße gibt es zwar noch unter anderer Hausnummer, aber das damalige Haus wurde mutmaßlich genauso ein Opfer der Bomben, heute steht dort ein Neubau.

Was von Seifen übrig blieb

Und ebenso existieren die neu entdeckten Spuren in Allersberg über Dora nur noch in den Akten: Die Häuser gibt es nicht mehr, das ehemalige Spital ist heute ein Pfarr- und Kolpinghaus mit Gaststätte. Und Doras Grab wurde bereits vor über 25 Jahren aufgelöst.

Ich war in Berlin. Ich war in Seifen. Und ich war in Allersberg. Nichts erinnert mehr an Dora Richter.

Quellen

  • „Antrag auf Heimatschein, Bezirksamt Joachimsthal Karton Nr. 93, Inv. Nr. 271“, 1934. Státní oblastní archiv v Plzni, Státní okresní archiv Karlovy Vary.
  • „Antrag auf Reisepass, Ministry of the Interior – Old Registry 1919-1940“, 1925. Tschechisches Nationalarchiv Prag.
  • „Antrag auf Reisepass, sekce 1918-39, karton ƒ. 99, spis ƒ.j. 57475.V-4.25 ze dne 7.4.1925.pdf“, 1925. Archiv des tschechischen Außenministeriums.
  • „Ärztliches Gutachten des Instituts für Sexualwissenschaft für Dora Richter, Abschrift, sekce 1918-39, karton ƒ. 99, spis ƒ.j. 57475.V-4.25 ze dne 7.4.1925.pdf“, 1925. Archiv des tschechischen Außenministeriums.
  • „Heimatschein Dora Richter, Bezirksamt Joachimsthal Karton Nr. 93, Inv. Nr. 271“, 1934. Státní oblastní archiv v Plzni, Státní okresní archiv Karlovy Vary.
  • Kreißl, Anton, und Anton Lenhart. Seifen. Eine einst lebendige Gemeinde auf dem rauhen Kamm des Erzgebirges. 2. erweiterte Auflage. Schönheide: o.V., 2007.
  • „Schreiben des DRK-Suchdienstes“, 13. Mai 2024.
  • „Unterlagen der Volkszählung Čechoslovakische Republik 1930“, 1930. Tschechisches Nationalarchiv Prag.
  • „Volks-, Berufs- und Betriebszählung Gau Sudetenland“, 17. Mai 1939. Tschechisches Nationalarchiv Prag.

uvm.

Danksagung

Die neuen Erkenntnisse basieren auf den Funden in zahlreichen Archiven und auf vielen Hinweisen, die ich erhalten habe.

Für Unterstützung bei der Suche in tschechischen Archiven möchte ich Camille danken, die mir bei der Sprachbarriere sehr geholfen hat. Für einen immer wiederkehrenden Austausch zur trans* Geschichte danke an Kai* Brust und Jako Wende, und an Raimund Wolfert, Rainer Herrn und Ralf Dose von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.

Herzlichen Dank an die vielen freundlichen und sehr hilfsbereiten Mitarbeiter*innen im Nationalarchiv Prag, dem Archiv des tschechischen Außenministeriums und dem Regionarchiv Pilsen. Danke an das Projekt portafontium.eu für das Veröffentlichen historischer genealogischer Quellen aus Böhmen.

Ebenso ein Dankeschön an Christa und Horst Engel vom Karlsbader Museum in Wiesbaden und an den User »Ingenieur« im Forum ahnenforschung.net für wertvolle Hinweise.

Und schließlich ein besonderes Dankeschön an die Mitarbeiter*innen vom DRK-Suchdienst für entscheidende Funde und das Einwohnermeldeamt Allersberg für weitere Auskünfte.

Ein Gedanke zu “Rätsel um Verbleib gelöst”

  • Wow, tausend Dank für die Recherche! Was für eine wunderschöne Geschichte. Ich bin so froh, dass sie gut ausgegangen ist. Ich lebe in Berlin, mein Opa kommt aus einem der Nachbarorte von Seifen und ich bin 10 Minuten entfernt von Allersberg aufgewachsen. Dementsprechend bin ich gerade sehr berührt. Ich habe auch direkt meinen Opa angerufen, aber leider kannte er Dora und auch ihre Familie nicht. Liebe Grüße Lisa

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