Hertha Wind, geboren 1897 in Ludwigshafen am Rhein, ist eine der wenigen dokumentierten trans Frauen in Deutschland, deren Leben sich durch die nationalsozialistische Ära zog und die dabei die radikalen gesellschaftlichen Umbrüche sowohl der Weimarer Republik als auch der Nachkriegszeit durchlebte. Sie konnte ihre Identität behaupten und sogar operative Eingriffe durchführen lassen.
Anmerkungen vorab
- Quellenlage: Über Hertha Winds Leben liegen relativ viele Quellen vor. Die umfangreichsten Dokumente sind aber problematische Quellen wie Polizei- und Krankenakten. Deren Inhalte müssen unbedingt kontextualisiert und um andere Quellen ergänzt werden.
- Keine Deadnames: Ich vermeide Deadnames. Auch verwende ich rückwirkend immer den Namen Hertha statt des Deadnames oder des zwischenzeitlich anderen Vornamens. Das kann beim Lesen zu Verwirrungen führen, diese sind aber nur zu exemplarisch für das Selbstempfinden einer trans Person.
Content Notes
- Nationalsozialismus und NS-Verbrechen
- Antisemitismus
- Zwangspsychiatrisierung
- Suizidabsichten
Frühe Jahre: Zwischen Normen und innerer Identität
Hertha Wind wurde am 29. November 1897 in Ludwigshafen am Rhein geboren. Ihr Vater, Johannes Wind, arbeitete als Fabrikarbeiter in der Badischen Anilin- und Sodafabrik, heute bekannt als BASF. Bereits in ihrer Kindheit zeigte Hertha deutlich, dass sie sich nicht in die traditionellen Geschlechterrollen einfügen wollte. Sie interessierte sich für Handarbeiten, Puppenspiele und Tätigkeiten, die in dieser Zeit als weiblich galten.
Mit der Pubertät begann Hertha, sich äußerlich den Anforderungen der männlichen Rolle anzupassen. Sie wandte sich dem Sport zu, besonders dem Schwimmen und Ringen, und versuchte, durch körperliche Stärke und Leistung die gesellschaftlichen Normen für Jungen zu erfüllen.
Ein konventioneller Start in ein unkonventionelles Leben
1915, im Ersten Weltkrieg, meldete sich Hertha freiwillig zur Kaiserlichen Kriegsmarine. Möglicherweise war das ein Versuch, eine männliche Identität durch den Dienst in einer traditionellen und disziplinierten Organisation aufzubauen. Besonders die Uniform spielte für Hertha eine wichtige Rolle – sie gefiel ihr ihrer »seelischen Einstellung« entsprechend. Hertha diente in erst Flandern und später auf mehreren Kreuzern, darunter auf der SMS Friedrich der Große, die später bei der Selbstversenkung der Kaiserlichen Hochseeflotte in Scapa Flow 1919 unterging.
Während ihrer Zeit in der Marine sammelte Hertha auch erste sexuelle Erfahrungen, sowohl mit Frauen als auch mit einem männlichen Kameraden. Die Beziehung zu einem älteren Obermatrosen prägte sie besonders, und sie beschrieb später, wie sie in dieser Beziehung die passive Rolle übernahm. Diese Erfahrungen waren ein wichtiger Teil ihrer persönlichen Entwicklung und stellten erste Schritte in Richtung ihrer wahren Identität dar.
Nach dem Ende des Krieges kehrte Hertha nach Ludwigshafen zurück, wo sie ihre frühere Tätigkeit bei der BASF wieder aufnahm. Im Jahr 1923 heiratete sie Elisabeth Gickeleiter, eine Modistin, die in Ludwigshafen lebte. Das Paar bekam zwei Söhne: Herbert, geboren 1924, und Rudi, geboren 1925. Nach außen hin schien die Familie ein normales bürgerliches Leben zu führen. Hertha arbeitete als Kaufmann und war Mitglied im örtlichen Ringerclub. Doch innerlich kämpfte sie weiterhin mit ihrer Geschlechtsidentität.
Die späten 1920er Jahre: Zwischen Krankheit und Selbstfindung
1928 erkrankte Hertha an schweren Rückenschmerzen, die sie über Monate ans Bett fesselten, vermutlich eine Spätfolge des Kriegsdienstes. Diese Zeit führte dazu, dass Hertha sich intensiv mit ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzte. Sie verspürte den starken Wunsch, Frauenkleidung zu tragen, und begann, ihren Körper als weiblich zu empfinden. Die medizinische Erklärung für diese körperlichen Veränderungen war unklar, doch Hertha deutete sie als Zeichen einer »Verweiblichung«.
Ihre Ehefrau Elisabeth bemerkte die zunehmenden Veränderungen und reagierte zunächst mit Zurückhaltung, zeigte jedoch später Verständnis und unterstützte Hertha. Trotz dieser Unterstützung geriet Hertha in eine tiefe seelische Krise. Sie verfasste einen Abschiedsbrief und plante, sich das Leben zu nehmen. Elisabeth konnte das Vorhaben verhindern, und Hertha entschloss sich, Hilfe zu suchen.
Die ersten Schritte zur Transition: Hilfe von Magnus Hirschfeld
1930 wandte sich Hertha an den renommierten Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft betrieb. Hirschfeld war eine zentrale Figur in der frühen Erforschung und Unterstützung von »queeren« Menschen. Er vermittelte Hertha an den Arzt Max Flesch-Thebesius in Frankfurt am Main, wo sich Hertha im Oktober 1931 der ersten Operation unterzog, einer Orchiektomie (Entfernung der Hoden) und Implantation von Ovarien. Diese Operation markierte einen wichtigen Wendepunkt in ihrem Leben, denn sie half ihr, sowohl körperlich als auch psychisch zu einem Gleichgewicht zu finden.
Der Erfolg war in seel. wie in körp. Hinsicht ein guter. Während ich
vorher seel. viel zu leiden hatte, selten lachte und ernst war, konnte
ich nach dem Eingriff froh und heiter sein; der schlechte Appetit und
schlechter vorheriger Schlaf machten einem sehr guten Appetit und
Schlaf Platz. Im Allgemeinen war ich viel ruhiger und zufriedener
geworden und war glücklich.
Nach der Operation kehrte Hertha nach Hause zurück, wo sich ihre Rolle innerhalb der Familie veränderte. Ihre Kinder, die mit der Situation erst einmal zurechtkommen mussten, begannen sie »Tante« zu nennen. Hertha übernahm vermehrt Hausarbeiten und kümmerte sich um die Kinder, während Elisabeth den Lebensmittelladen der Familie weiterführte. Doch trotz dieser neuen Harmonie blieb Herthas Leben von Konflikten geprägt.
1933: Die »Frankenthaler Affäre«
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 verschärfte sich die Situation für Hertha dramatisch. Die nationalsozialistische Ideologie verfolgte trans Menschen ebenso wie andere queere Personen, und es gab keine rechtliche oder medizinische Unterstützung für geschlechtsangleichende Maßnahmen. Außerdem brach das medizinische Umfeld von Hertha weg, ihre Behandler*innen mussten fliehen oder konnten keine Operationen mehr durchführen.
In dieser Zeit geriet auch Hertha in große Schwierigkeiten. Im Juni 1933 wurde Hertha von einem ehemaligen Mitbewohner, Anton Wadle, erpresst. Er forderte von Flesch-Thebesius eine Entschädigung, da er behauptete, sie sei durch »jüdische Ärzte verpfuscht« worden. Wadle inszenierte eine Bedrohungssituation, die schließlich dazu führte, dass Hertha am 22. August 1933 von der Polizei verhaftet und in die Heil- und Pflegeanstalt Frankenthal eingewiesen wurde. Dort wurde sie als »gemeingefährlich geisteskrank« eingestuft und musste in der Männerabteilung in der Teppichweberei arbeiten.
Während ihrer Zeit in der Anstalt war Hertha gezwungen, sich von ihrer weiblichen Identität zu distanzieren. Unter dem Druck der Ärzte und Behörden versprach sie, wieder als Mann zu leben, und wurde schließlich nach etwa einem Jahr entlassen. Doch das Leben unter ständiger Überwachung und Bedrohung setzte sich fort, nur knapp entging sie 1935 einer erneuten Einweisung in die Psychiatrie.
Die Heil- und Pflegeanstalt Frankenthal gehörte später zu den Einrichtungen, in der ab 1940 Patient*innen deportiert und ermordet wurden.
Weitere Transitionsschritte während der NS-Zeit
Trotz der extrem repressiven Bedingungen während der NS-Zeit gelang es Hertha, ihre Transition weiterzuführen.
1939 unterzog sie sich in Mannheim einer Penisamputation, und 1940 folgte in Frankfurt am Main die Anlage einer Neovagina. Diese medizinischen Eingriffe waren zu dieser Zeit außergewöhnlich.
Neben den körperlichen Veränderungen kämpfte Hertha auch um ihre rechtliche Anerkennung. 1936 erhielt sie die Erlaubnis, den Vornamen »Toni« zu tragen, was einen bedeutender Schritt in ihrer rechtlichen Anerkennung darstellte. Dieser neutrale Vorname war jedoch nicht die endgültige Lösung, die sie suchte.
Die Nachkriegszeit: Scheidung, Namensänderung und öffentliche Kämpfe
Nach dem Krieg stand Hertha vermutlich ziemlich allein da. Sie hatte als trans Frau die NS-Zeit überlebt und auch die schweren Luftangriffe auf Mannheim. Sie war aber ausgebombt, und ihre Ehe mit Elisabeth bestand wahrscheinlich nur noch auf dem Papier. 1946 ließ sich das Paar scheiden. Hertha änderte kurz danach ihren Namen endgültig in »Hertha Elisabeth« und setzte ihren Kampf um Anerkennung fort. Sie stellte Anträge auf Berichtigung ihrer Standesamtsakten und versuchte, eine Rehabilitierung für ihre unrechtmäßige Einweisung in die Psychiatrie während der NS-Zeit zu erreichen. Doch die Behörden blockierten die Rehabilitierung, und der damalige behandelnde Anstaltsleiter rechtfertigte sein Vorgehen in der NS-Zeit.
In den 1950er Jahren suchte Hertha die Öffentlichkeit. Angesichts der Berichterstattung über Christine Jorgensen aus den USA und Roberta Cowell aus Großbritannien wagte Hertha den Schritt, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Zunächst ging sie zum Stern, danach erschienen mehrere Artikel über ihr Leben, sowohl in deutschen als auch in internationalen Zeitungen.
Hertha plante auch, ihre Memoiren zu veröffentlichen, um ihre Erfahrungen und ihre Kämpfe einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. Ein Frankfurter Verleger zeigte bereits Interesse, doch eine einstweilige Verfügung ihrer Ex-Ehefrau verhinderte die Veröffentlichung.
Die letzten Jahre: Ein Rückzug ins Private
In ihren letzten Lebensjahren lebte Hertha zurückgezogen und unter ärmlichen Verhältnissen in Mannheim. In ihrer kleinen Wohnung vermietete sie ein Zimmer, und sie suchte Unterstützung bei der Wohlfahrt der Stadt. Außerdem erstritt sie sich nach anfänglicher Ablehnung der Rentenversicherung eine Anerkennung der Kriegsdienstzeit für die Rente, woraufhin ihre kleine Rente (ein wenig) erhöht wurde.
Hertha Wind starb am 5. November 1972, nur wenige Wochen vor ihrem 75. Geburtstag. Ihre Geschichte geriet nach ihrem Tod in Vergessenheit, allerdings wurde ihr »Fall« immer wieder in der medizinischen und sexualwissenschaftlichen Fachliteratur erwähnt, ohne dass jedoch der Name der Person dahinter bekannt war.
Fazit
In den letzten Jahren rücken durch die historische Aufarbeitung von queeren Lebensgeschichten ihr Name und ihr Kampf wieder ins Bewusstsein – und ich möchte mit diesem Beitrag einen Teil dazu leisten. Zu Hertha Winds Leben habe ich bereits umfangreich geforscht, aber bisher außer verstreuten Beiträgen in Social Media nichts veröffentlicht.
Hertha Winds Geschichte ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Kampf einer trans Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt, wie schwierig es war, in einer Zeit der Unterdrückung für die eigene Identität einzustehen, und erinnert uns daran, wie wichtig es ist, diese Geschichten zu erzählen und sichtbar zu machen.
Quellen (Auswahl)
Akten
- Akte H 74 Nr. 2415, Landesarchiv Speyer
- Patientenakte Nr. 24944, Pfalzklinikum Klingenmünster
Zeitungsartikel
- a, k. „Kein Geschäft mit Geschlechtsumwandlung.“ Pfälzer Abendzeitung, 2. Februar 1955.
- ———. „Vernunft und Anstand siegten im Fall Wind.“ Die Rheinpfalz, 2. Februar 1955.
- Clarke, Ronald. „»He« wins a Diploma for Motherhood!“ The People., 13. Februar 1955.
- ———. „His Two Sons Began to Call him »Auntie«.“ The People., 6. Februar 1955.
- ———. „My Life as Man and Woman.“ The People., 30. Januar 1955.
- ———. „Sex Change Secret out after 25 Years.“ The People., 23. Januar 1955.
- lex. „Ein Matrose wurde mit 30 Jahren zur Frau.“ Mannheimer Morgen, 9. Dezember 1954.
- ———. „“Metamorphose”.“ Mannheimer Morgen, 2. Februar 1955.
- ———. „Zivilkammer: “Metamorphose, Band I”.“ Mannheimer Morgen, 5. Januar 1955.
- lsw. „Ein Mann wurde zur Frau. Frühere Ehefrau gegen Veröffentlichung der ungewöhnlichen Lebensgeschichte.“ Neckar-Bote, 10. Dezember 1954.
- o.A. „»Daddy« Turned »Auntie«. Sex-Change Sailor Sued By Ex-Wife.“ Aberdeen Evening Express, 4. Januar 1955.
- ———. „Geheimnisse einer unheimlichen Ehe.“ Bild, 5. Januar 1955.
- ———. „Sex Change Autobiography Publication Prohibited.“ The Civil & Military Gazette, 3. Februar 1955.
- ———. „Une affaire compliquée en Allemagne.“ Le Soleil, 5. Januar 1955.
- Topp, Michael. „Hertha war einmal mein Mann“. Wochenend Sonntagspost, 22. Januar 1955.
- w., r. „Die Tragödie eines Menschenlebens.“ Die Rheinpfalz, 23. September 1954.
Literatur
- Bürger-Prinz, Hans, H. Albrecht, und Hans Giese. Zur Phänomenologie des Transvestitismus bei Männern. Beiträge zur Sexualforschung, 3. Heft. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1953.
- Cohen, Dana-Livia, Wolfgang Knapp, und Christian Könne. Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region. Schriftenreihe MARCHIVUM 09. Ubstadt-Weiher, Heidelberg, Speyer, Stuttgart, Basel: Verlag Regionalkultur, 2022.
- Herrn, Rainer. Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2005.
- ———. „Transvestitismus in der NS-Zeit – Ein Forschungsdesiderat.“ Zeitschrift für Sexualforschung 26, Nr. 04 (2013): 330–71.