Problematische Narrative über Lili Elbe
Anmerkungen vorab
- Ich vermeide Deadnames. Auch verwende ich rückwirkend immer den Namen Lili statt des Deadnames. Das kann beim Lesen zu Verwirrungen führen, diese sind aber nur zu exemplarisch für das Selbstempfinden einer trans Person. Lilis bei der Geburt zugewiesener Name wird im nachfolgenden Text bewusst nicht genannt. Er spielt hier keine Rolle.
- In der referenzierten Literatur gibt es Deadnaming, Misgendering, problematische alte Begriffe zuhauf.
Lili als trans* Pionierin
Lili Elbe (1882--1931) ist wohl die erste trans Frau, deren Schicksal weltweite Aufmerksamkeit erreicht. Erst durch Zeitungsartikel, dann durch »ihr« Buch, das von Niels Hoyer herausgegebene Werk »Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte.« aus dem Jahr 1932 (bzw. 1931 in dänischer Sprache und 1933 in englischer Sprache). Dieses Buch ist die erste Autobiographie einer trans* Person und wurde zum Vorbild für viele weitere Bekenntnisse, und Lili Elbes Geschichte wurde identitätsstiftend für die trans* Community (siehe dazu auch Neckelmann 2019, Nachwort von Rainer Herrn ab S. 307). Zugleich ist das Buch jedoch keine Quelle, deren Wahrheitsgehalt wir unkritisch übernehmen dürfen, viel zu komplex ist die Entstehungsgeschichte, und viel zu viele Personen waren am Text beteiligt (ausführlich dazu Meyer 2015).
Dichtung oder Wahrheit?
Bei Texten über Lili Elbe fallen mir leider regelmäßig einige »schwierige« Narrative auf, die sich immer weiter reproduzieren.
Zu diesen Narrativen zählt unter anderem die Behauptung, Lili Elbe sei intergeschlechtlich gewesen -- und sie wird als erste Frau mit geschlechtsangleichenden Operationen beschrieben. Werden diese beiden Narrative kombiniert, führt das sogar zu so problematischen Aussagen wie der, Lili sei die »erste Intersexuelle, die sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzog« (so auf einer ursprünglichen erklärenden Tafel unter dem Straßenschild der Lili-Elbe-Straße in Dresden, das mittlerweile gottseidank korrigiert wurde. Beides ist nicht richtig. (Außerdem ist die Wahl der Sprache nicht eben glücklich.)
Aber da hören die problematischen Narrative nicht auf. Die »Erweckung« von Lili als Modell für ihre Partnerin Gerda Wegener ist eine schöne Geschichte, jedoch wenig glaubwürdig. Sie wird oft erzählt, dürfte aber schlicht falsch sein.
War Lili intergeschlechtlich?
Zunächst zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Woher kommt diese Aussage? Ist Lili Elbe nicht eine trans* Vorreiterin? In Lilis (Auto-)Biographie steht tatsächlich, dass Prof. Warnekros (der Lili später operierte) höchstwahrscheinlich Ovarien in ihrem Körper vermutet, sie also sowohl männliche als auch weibliche Organe besitze. Er hatte Lili vor ihrer Abreise nach Berlin »untersucht« -- tatsächlich hat er sie nur abgetastet (Elbe 1932, S. 15). In einer zeitgenössischen Quelle bezeichnet er sie als »wahren Hermaphroditen« (Allatini 1939, S. 218f.).
Nach der ersten Operation in Dresden behauptet Warnekros, dass er verkümmerte Ovarien gefunden hätte (Elbe 1932, S. 154, ausführliche Auseinandersetzung damit in Meyer 2015, S. 277ff.).
Gibt es andere Quellen dazu als Lilis Buch? Immerhin hat sich ein Text von Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1935 erhalten, wo er rückblickend über die Untersuchung in Berlin vor Lilis erster Operation schreibt. Er attestiert ihr darin ein völlig normales männliches Erscheinungsbild des Körpers, es gebe keine Spur von Intergeschlechtlichkeit.
Wir konnten Wegener vor der Operation in unserem Berliner Institut sehen: Sehr weiblich in ihrem Habitus und vor allem in ihren Bewegungen, die Patientin wies jedoch nicht die geringste Spur von somatischem Hermaphroditismus oder gar ausgeprägter Androgynie auf.
[...]
Seine [= Prof. Warnekros’] Behauptung, dass bei der Operation Überreste von Eierstöcken gefunden worden seien, können wir kaum überprüfen.
(Übersetzung aus dem Französischem, Pronomen angepasst, zitiert nach Hirschfeld 1935, S. 96)
Auch ansonsten hat Warnekros eher »wilde” Thesen zu Homosexualität, die ihn nicht glaubwürdiger machen. So behauptet er, dass viele männliche Homosexuelle Ovarien hätten, und lesbische Frauen Testikel. (Allatini 1939, S. 218ff.) Mir scheint es eher, dass ob er einer These anhing, die damals vielleicht Anhänger*innen fand, als die Erforschung der Sexualhormone noch nicht so weit fortgeschritten war, heute aber völlig unhaltbar ist.
Ich kann mir zudem gut vorstellen, dass die Aussagen zur Intergeschlechtlichkeit als Strategie verwendet wurden, um die rechtliche Anerkennung als Frau zu erreichen. Das war ein von Hirschfeld erprobtes Vorgehen und passierte immer wieder in der Zeit (Herrn 2022, S. 276ff.),
Dazu kommt meines Erachtens noch ein weiterer Aspekt: »Intergeschlechtlichkeit« verlieh dem operativen Vorgehen eine ganz andere Legitimität. Mit dieser Diagnose konnte man in einer biologistisch geprägten Medizin wie um 1930 Eingriffe wie bei Lili viel einfacher rechtfertigen. Ist eine Person intergeschlechtlich, hat sie eine körperliche »Abweichung«, die in Ordnung gebracht werden kann. Als trans* Person hat die gleiche Person bestenfalls eine psychische Störung. Und einen gesunden Körper dann zu operieren, wirft ganz andere ethische Fragen auf. Es dauerte Jahrzehnte bis zum Konsens, dass geschlechtsangleichende körperliche Maßnahmen bei trans* Personen gerechtfertigt sind.
Zudem hat Niels Hoyer die Aussagen in Lilis Buch für ein cis-heteronormatives Publikum angepasst und »normalisiert« (ausführlich dazu Meyer 2010). Für geschlechtliche Uneindeutigkeiten, das Aufbrechen binärer Geschlechtsvorstellungen oder gar gleichgeschlechtliches Begehren war kein Platz in einem Buch, dass sich am Beginn der 30er Jahre an eine breite Leser*innenschaft richten sollte.
Was bleibt? Die Behauptungen zu Lilis vorgeblicher Intergeschlechtlichkeit haben es -- leider -- in die Wikipedia und in einschlägige Literatur geschafft, und seitdem werden sie immer wieder reproduziert.
Ein zusätzliches Problem ist, dass viele Originalquellen verloren sind. Die Aufzeichnungen aus dem Berliner Institut für Sexualwissenschaft, in dem Lili zunächst untersucht wurde und wo der erste Eingriff stattfand, wurden ein Opfer von dessen Zerstörung im Mai 1933. Und die Aufzeichnungen aus der Dresdner Frauenklinik, in der Lili danach mehrfach operiert wurde, verbrannten bei der Bombardierung Dresdens im Februar 1945.
Letztlich können wir nur spekulieren und (mit Wahrscheinlichkeiten) vermuten, aber es ist naheliegend, dass Lili nicht intergeschlechtlich war.
War Lili die erste?
Die zweite Aussage, die sich immer wieder findet, ist, dass Lili als erste trans* Frau geschlechtsangleichende Operationen erhielt. Auch sie geht direkt auf Lilis Buch zurück (Elbe 1932, S. 101).
Richtig ist, dass Lili eine der erste trans* Frauen war, die sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzog. Sie war aber keineswegs die erste. Bereits für 1923 ist u.a. eine Operation bei Dora Richter belegt (Abraham 1931, Najac 1931). Und zur ähnlichen Zeit wie Lili erhielten in Berlin die bereits genannte Dora Richter, außerdem Charlotte Charlaque und Toni Ebel Operationen. Nichtsdestotrotz behauptet Lili später in ihrem Buch, dass ihr Fall ein Novum war. Und über die trans* Personen am Institut für Sexualwissenschaft, die sie sah -- vermutlich lernte sie zumindest Charlotte Charlaque und Dora Richter persönlich kennen –, schrieb sie sehr abfällig (Elbe 1932, S. 39).
Lilis Fall wurde allerdings viel bekannter als die Fälle ihrer trans* Zeitgenoss*innen, da Zeitungsberichte und schließlich das Buch weltweite Aufmerksamkeit erreichten. Die posthum erschienene (Auto)Biographie »Ein Mensch wechselt sein Geschlecht« von 1932 (= Elbe 1932) war erfolgreich und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Erinnerung an Lili Elbe überdauerte (mit deutlichen Einschränkungen) auch die kurz danach einsetzende Zeit des Nationalsozialismus. In den 50er Jahren des letztes Jahrhunderts erschienen sogar Neuausgaben in deutscher und englischer Sprache (Hoyer 1954 und Hoyer 1953). Währenddessen gerieten Lilis Zeitgenoss*innen aus Berlin in Vergessenheit. Erst in jüngster Vergangenheit wurden ihre Lebensgeschichten wieder erforscht. Raimund Wolfert veröffentlichte 2021 ein Buch über die in die USA ausgewanderte Tänzerin Charlotte Charlaque (1892--1963), in der er ihren Lebensweg und ihr Umfeld so gut wie möglich nachzeichnet (Wolfert 2021). Wiederum Raimund Wolfert, zusammen mit Ezra Paul Afken, kuratierte außerdem eine Ausstellung über die Malerin Toni Ebel (1881--1961), die die NS-Zeit im Exil überstand und nach 1945 bis zu ihrem Tod in der DDR lebte (Website). Und mir selbst ist es gelungen, Dora Richters Schicksal aufzuklären (Rätsel um Verbleib gelöst).
Wie wurde Lili trans?
Schließlich möchte ich auf ein drittes problematisches Narrativ über Lili Elbe eingehen, das immer wieder reproduziert wird.
Die Anekdote von Lilis »Erweckung« Modellsitzen darf in keinem Text fehlen: Gerda malt ein Bild, das Modell kommt nicht, Gerda bittet Lili (noch als Mann), aushilfsweise für den unteren Teil des Bildes Modell zu sitzen, Lili lässt sich widerwillig darauf ein, und auf einmal, schwupps, wird Lili geboren (ursprünglich in Elbe 1932, S. 50). Diese Geschichte wird auch zentral in David Ebershoffs Roman »Das dänische Mädchen« und dem darauf basierenden Film »The Danish Girl" aufgegriffen (Ebershoff 2000).
Das ist eine hübsche Geschichte, aber überhaupt nicht plausibel. Ich habe noch in keiner einzigen trans* Biographie etwas Vergleichbares gelesen oder von einer trans* Person eine solche Erzählung gehört. Viel wahrscheinlicher dürfte es sein, dass diese Situation für Lili die erste Gelegenheit in der Ehe mit Gerda war, in die Rolle der Frau zu schlüpfen. Lili war sicher schon vorher trans und hatte jetzt zum ersten Mal die Möglichkeit, auch als Frau aufzutreten. Oder ihr wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst, was die ganze Zeit in ihr angelegt war und bis dahin nicht benennbar war.
Dazu passt auch die folgende Aussage von Hélène Allatini, die mit der Familie Wegener befreundet war. Ihr Bericht über Lili Elbe im Buch »Mosaïques« ist eine der raren Quellen jenseits von Lilis Buch. Die Initiative ging offenbar von Lili aus!
Bé sah, dass ich verärgert war, weil ich meine Arbeit nicht vorantreiben konnte, und bot sich an, das Modell zu ersetzen, zumindest was das Kleid betraf, wenn [sie] es schaffen würde, es anzuziehen. Ich war erstaunt, dass es [ihr] nicht nur wunderbar passte, sondern dass [sie] auch blendend aussehende weibliche Schultern hatte.
(Übersetzung aus dem Französischem, Pronomen angepasst, zitiert nach Allatini 1939, S. 208, »Bé« war ein Spitzname für Lili)
Später nutzte Lili jede Gelegenheit, en femme aufzutreten. Das legt die gleiche Quelle nahe und ist so viel plausibler!
Während des Essens wurde Bé mit Champagner getauft, und von da an stand [sie] mir oft Modell und verkleidete sich als Frau, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Bé liebte diese Art von Arbeit und liebte es, die Leute zu mystifizieren, die [sie] ausnahmslos für eine Tochter Evas hielten.
(Übersetzung aus dem Französischem, Pronomen angepasst, zitiert nach Allatini 1939, S. 209)
Neben der Tatsache, dass die immer wieder kolportierte Geschichte von Lilis »Erweckung« falsch ist, hat sie auch eine handfeste problematische Auswirkung: Sie erzeugt den Eindruck, dass trans zu sein eine Performance ist, und dass Personen durch äußere Einflüsse trans würden. Aber trans zu sein gehört untrennbar zur eigenen Identität. Es ist keine Performance!
Fazit
Hört bitte auf, Narrative zu reproduzieren, die nachweislich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch sind. Nur weil sich etwas als gute Geschichte eignet, muss es noch lange nicht stimmen (looking vor allem at you, American trans influencers).
Quellen
Abraham 1931: Abraham, Felix. „Genitalumwandlung an zwei männlichen Transvestiten.“ Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Nr. 18 (1931): 223–26.
Allatini 1939: Allatini, Hélène. Mosaïques. Paris: Èditions de la Nouevelle Revue Critique, 1939.
Ebershoff 2000: Ebershoff, David. Das dänische Mädchen. Übersetzt von Werner Schmitz. 1. Auflage. München: Goldmann, 2000.
Elbe 1932: Elbe, Lili. Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte. Aus hinterlassenen Papieren herausgegeben von Niels Hoyer. Herausgegeben von Niels Hoyer. Dresden: Carl Reißner Verlag, 1932.
Hirschfeld 1935: Hirschfeld, Magnus. „La Manie Androgyne.“ In Le Sexe Inconnu., übersetzt von W. R. Fürst, 91–97. Paris: Editions Montaigne, 1935.
Hoyer 1933a: Hoyer, Niels, Hrsg. Man into Woman. An Authentic Record of a Change of Sex. Übersetzt von H. J. Stenning. London: Jarrolds Publishers, 1933.
Hoyer 1933b: ———, Hrsg. Man Into Woman. An Authentic Record of a Change of Sex. The True Story of the Miraculous Transformation of the Danish Painter Einar Wegener (Andreas Sparre). Übersetzt von H. J. Stenning. New York: Dutton, 1933.
Hoyer 1953: ———. Man Into Woman. An Authentic Record Of A Change Of Sex. 3. Auflage. New York: Popular Library, 1953.
Hoyer 1954: ———. Wandlung. Eine Lebensbeichte. Stuttgart: Tauchnitz, 1954.
Meyer 2010: Meyer, Sabine. „Mit dem Puppenwagen in die normative Weiblichkeit. Lili Elbe und die journalistische Inszenierung von Transsexualität in Dänemark.“ NORDEUROPAforum Jahrgang 20, Nr. 1–2 (2010): 33–61.
Meyer 2015: ———. »Wie Lili zu einem richtigen Mädchen wurde.« Lili Elbe: Zur Konstruktion von Geschlecht und Identität zwischen Medialisierung, Regulierung und Subjektivierung. Queer Studies 9. Bielefeld: Transcript, 2015.
Neckelmann 2019: Neckelmann, Harald. Die Geschichte von Lili Elbe. Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Berlin: be.bra verlag, 2019.
Wolfert 2021: Wolfert, Raimund. Charlotte Charlaque. Transfrau, Laienschauspielerin, »Königin der Brooklyn Heights Promenade«. 1. Auflage. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2021.