Herr B (Hirschfeld 2)

Wann erwähnt: 1910

Namen(n): M: Herr B / W:

Lebensdaten: 1875 geboren

Beruf: Privatier

Ort(e): nicht genannt

Fallbeschreibung

Originaltext Hirschfeld

Fall II.

Herr B., 35 Jahre alt, verheiratet. Zur Frage der Degeneration lässt sich in Verwandtschaft und Vorfahrenreihe nichts ermitteln. Da er als Kind sehr schwächlich war und sämtliche Kinderkrankheiten durchmachte, so lernte er spat gehen, indessen zeitig sprechen und noch vor Schulbesuch lesen. War ängstlich und weinerlich. Masturbation vom 11. Jahre an. Nahm meist an Knabenspielen Teil, hatte aber auch Gefallen an mädchenhaftem Benehmen. War geistig immer sehr rege und eignete sich eine umfassende Bildung an. Neigte zu Schwärmereien und dichterischer Stimmung.

Status praesens: Figur von mittlerer Grösse Konturen mehr mager. Hände und Füsse klein. Muskulatur schwach entwickelt. Liebt Tanzen und Reiten. Haut weiss und rein. Eine Phimose besteht und macht zeitweilig Beschwerden. Haupthaar im Ausgehn begriffen, Körperbehaarung und Bartwuchs mittelstark. Errötet und erblasst leicht. Kehlkopf stark vortretend, Stimme tief. Ist für wechselnde Stimmungen zugänglich, neigt zur Bequemlichkeit, betreibt nur die „Beschäftigungen, die ihm liegen“, da seine Verhältnisse dies gestatten. Trinkt ziemlich viel, ohne es immer gleich gut zu vertragen. Raucht 50-80, ja 100 Zigaretten täglich. Gedächtnis lässt nach, Phantasie üppig. Hat allerhand künstlerische und wissenschaftliche Passionen. Möchte einen Beruf haben, der ihm das Reiten und das Tragen von Damenkleidern gleichzeitig gestattet.

Vita sexualis: Aus den Aufzeichnungen des Herrn B. entnehmen wir folgende Einzelheiten:

Bereits in meiner zartesten Kindheit, noch lange vor dem schulpflichtigen Alter, äusserten sich bei mir die Vorzeichen meines seelischen Dualismus. Und zwar in der Weise, dass mich weibliche Kleidungsstücke (meist die Schürzen meiner Schwestern) unwiderstehlich verlockten, sie im Geheimen anzulegen. Später begann ich mich auch für Ohrringe zu interessieren, trotzdem mir bei ändern Bannern sowohl Ohrringe wie Schürzen (z. B. bei Handwerkern) höchst komisch vorkamen und ich überhaupt eine echt knabenhafte Verachtung alles Weiblichen zur Schau trug, was mich nicht hinderte, eben dasselbe insgeheim für meine Person zu wünschen. Ich möchte behaupten, dass dieser Gegensatz nicht auf Verstellung und Scheinheiligkeit beruhte, sondern die notwendige Folge meines inneren Dualismus war. Nebenbei: ich war ein sehr aufgeweckter, begabter Junge, der bereits auf der Volksschule den Pegasus zu besteigen wagte.

„Ungefähr in meinem 10. oder 11. Lebensjahre verspürte ich eines Tages, als ich nach Knabenart auf einer Wagendeichsel turnte, plötzlich ein heftiges Lustgefühl und die Onanie war für mich erfunden. Seither wiederholte ich dies Experiment so oft wie möglich. Stets verband sich damit die Vorstellung vom Verkleiden. Diese und später ähnliche Manipulationen waren ursprünglich sozusagen rein reflektorisch, denn in meiner absoluten Unkenntnis von allem, was Geschlechtsleben heisst, wusste ich lange Jahre nicht, dass ich damit eigentlich Onanie treibe.

„Als Student empfing ich mehrfach Eindrücke, die mich weiter auf die Bahn des Puellismus, wie ich es nannte, hindrängten. So las ich von Achill in Mädchenkleidern, sah den ersten Damenimitator, und dergleichen mehr. Ohrringe bei Männern und Frauen, überhaupt die Damentoilette, übten in diesen Jahren auf mich eine immer stärkere Wirkung. Ich fand öfters Gelegenheit, heimlich Damenkleider anzulegen und versuchte, mir die Ohrläppchen zu durchstechen. In meiner Einfalt liess ich aber den frischgestochenen Wundkanal immer wieder zuheilen; ich schärfte daher die Haken der Ohrringe an und stiess mir solchergestalt die Ohrläppchen immer wieder von neuem durch, was ich wohl einige hundertmal getan haben muss. Weit entfernt, dies als Schmerz zu empfinden, verspürte ich vielmehr stets ein derartiges Wollustgefühl dabei, dass ich mir sehr oft einzig deswegen die Ohrläppchen durchstach, auch wenn ich keine Ohrringe zur Hand hatte.

„Uebrigens verliebte ich mich damals, gleich meinen Kameraden, nur etwas später als sie; als träumerische Seele stand ich meinen Kollegen in praktischer Hinsicht überhaupt immer nach. Obwohl ich meine Geliebte (natürlich stets nur ein Mädchen) mehrfach wechselte, so blieb es doch immer bloss bei schüchterner Anbetung. Schon damals mischte sich in meine Liebesträume die stets wiederkehrende Vorstellung, die ich so gern auszuspinnen pflegte, dass ich nämlich gleich dem geliebten Mädchen auch Mädchenkleider, lange Haare und Ohrringe trage und wir beide gegenseitig alle diese schönen Sachen bewunderten. Ein Traum, der nun endlich in meinem 32. Jahre wenigstens für Augenblicke zur Wirklichkeit wurde.“

Als ich mit 16 Jahren das Gymnasium verliess, fand ich nicht nur im Vaterhause mehr Gelegenheit zur Verkleidung, ich konnte mir sogar nach und nach, natürlich heimlich, eine komplette Damengarderobe beschaffen, Kleider, Mieder, Unterröcke, Hemden, Höschen, Perücken, Schmuck, freilich hier in erster Reihe viele Paar Ohrgehänge. Vorerst behielt ich für Ohrringe die oben erwähnte Methode des Neueinstechens bei, die manchmal für mehrere Tage genügte. Endlich kam es dahin, dass die Oeffnung nicht mehr zuheilte, und ich konnte die Ohrringe nun jederzeit einhängen. Anfangs mischte sich bei diese Wahrnehmung in meine Freude ein gut Teil Angst und Scham, weshalb ich mir lange Zeit noch die Löcher in den Ohrläppchen zu verstopfen pflegte, während ich sie jetzt gewissermassen ostentativ zur Schau trage.“

„Ich verkehrte viel mit jungen Damen; am liebsten aber unterhielt ich mich mit ihnen von weiblichen Angelegenheiten, besonders von Kleidern und Schmuck, wobei es mir schmeichelte, wenn sie meine Ohrlöcher bemerkten und mir manchmal ihre Ohrringe hineinhängten. Dies ist für mich einer der höchsten Wollustmomente.“

„Den Koitus übte ich erst nach meinem 20. Jahre aus: dazu musste ich noch meine Schüchternheit und meine Abneigung gegen alles Körperlich-Sexuelle mit Alkohol betäuben. So blieb es auch in der Folge, bis ich ein Liebchen fand, bei dem ich manchmal und öfter auch nüchtern die nötige Anregung verspürte. Doch spielten auch hierbei Kleider und Ohrringe eine bedeutende Rolle, und mein Mädchen lernte so sehr den stimulierenden Einfluss der Ohrringe schätzen, dass sie mich jedesmal ante actum zum Einhängen der Ohrringe ermahnte resp. dies selber besorgte.

„Wenn ich nun auch seit Jahren permanent, (d. h. auch zur Männerkleidung) Mieder, Damenstrümpfe mit Strumpfbändern, Armbänder, manchmal auch Damenhemd, Damenhöschen, Halsband, event. (in der Fremde) sogar Ohrringe trage, so wuchs doch stets mein Wunsch, mich einmal öffentlich in Damenkleidern zu sehn und darin photographieren zu lassen. Mein Liebchen ermöglichte mir dies, und so besuchte ich mit ihr 1905 einen und 1906 drei Bälle im Damenkostüm; desgleichen liess ich mich mehrfach photographieren, für mich unvergessliche Stunden. Bevor sie noch meine Frau wurde, was vor kurzem geschah, versprach sie mir freiwillig, sich meiner Eigenart in der Ehe nicht zu widersetzen, sondern sie nach Möglichkeit zu fördern. Sie hält auch ihr Wort. Sind wir ganz allein in unserer Behausung, lässt sie mich ihre Kleider anziehn, und auch sonst gibt sie mir täglich zum Schlafengehn Damenhemd, Nachtjacke und Ohrringe.“

Zu Männern habe ich nie Neigung verspürt; bloss als Dame verkleidet habe ich gern m it ihnen kokettiert und gespasst. Wenn ich für eine Dame gehalten wurde, schmeichelte es mir sehr. Unter meinen Studiengenossen habe ich einen, der mir seine Vorliebe für Verkleidung eingestand. “

Quellen

Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910, Fall 2, S. 15-18