Herr F (Hirschfeld 6)

Wann erwähnt: 1910

Namen(n): M: Herr F / W:

Lebensdaten: 1870 (ca.) geboren

Beruf: Künstler von Ruf

Ort(e): nicht genannt

Fallbeschreibung

Originaltext Hirschfeld

Fall VI.

Herr P., Künstler von Ruf, ca. 40 Jahre alt. Inbezug auf Vorfahren und Verwandtschaft ist nichts Abnormes oder Degeneratives zu erkunden. Der Altersunterschied zwischen den Eltern betrug 20 Jahre. Die Kindheitsentwicklung verlief ohne bemerkenswerte Zwischenfälle; obwohl er sich auch an Mädchenspielen beteiligte, zog er die Knabenspiele doch vor. Schwärmerische Schulfreundschaften bestanden, aber ohne geschlechtliche Handlungen. Mit 21 Jahren liess er sich auf einer Reise im Orient von Arabern in anu gebrauchen.

Status praesens: Konturen des Körpers mehr rundlich, Hände und Füsse mittelgross, Schritte rhythmisch, liebt Tanz und Fusstouren; Teint dunkel und unrein, Körperbehaarung schwach, Kopfhaar wird gern lang getragen, Bartwuchs mittelstark. Errötet und erblasst leicht; Kehlkopf wenig hervortretend, Stimme ziemlich tief, Uebung zur Fistelstimme. Neigung zum Weinen, Eitelkeit, Abenteuersucht, Abhängigkeit von Stimmungen, exzentrisches Benehmen sind hier, wie oft bei Künstlern, vorhanden. Er trinkt und raucht stark. Bildung oberflächlich, Phantasie lebhaft.

Vita sexualis: Er hat immer viel masturbiert, so dass ihm Pollutionen unbekannt sind. Die Stärke seiner Libido unterliegt Schwankungen und drückt sich etwa in der Zahl von 2—14 Ejakulationen pro Woche aus. Hat er Frauenkleider an, so fällt es ihm leicht, usque ad orgasmum zu masturbieren, ohne dass er dabei an weibliche oder männliehe Personen zu denken brauchte; ja, es passierte ihm, dass die Ejakulation eintritt, ohne dass er sein membrum überhaupt berührt hätte. Als besonders reizend bezeichnet er eine melodische Stimme, die weiche Haut des Weibes und Parfums. In coitu bevorzugt er die Stellung des succubus. Er schloss zweimal Liebesheiraten, aus denen zwei Kinder hervorgingen. Aus seinen autobiographischen Skizzen sei folgendes hervorgehoben:

Soweit ich zurückdenken kann, wurde ich immer von dem einen Gedanken gequält, ich möchte weibliche Kleidung tragen. Erst waren es die Ohrringe und später die Damenstiefel, deren Anblick mir jedesmal heftige Wünsche erregte. Im Alter von 10 Jahren träumte ich oft, ich ginge mit richtig eingestochenen Ohrringen auf der Strasse spazieren, und jedermann fände das ganz natürlich. Die Vorstellung, dass ich so frank und frei meinen Wünschen entsprechend mich zeigen dürfe, verursachte mir ein erotisches Wohlbehagen. Erzählt habe ich niemandem je von diesen Träumen, sie vielmehr wie ein grosses Geheimnis sorgfältig gehütet. Dafür masturbierte ich um so eifriger, da ich bei dem Gedanken an Ohrringe von den heftigsten Erektionen geplagt wurde. Einmal bekam ich ein paar zierlich benähte Stiefeletten nach damaliger Mode; ich schämte mich furchtbar, sie anzuziehen und mich darin vor den Leuten zu zeigen, sodass sie schliesslich umgetauscht werden mussten.“

„Je älter ich wurde, desto schlimmer wurden diese Zustände bei mir. Ich schlich auf den Boden, zog die Stiefel meiner Mutter an, kramte in ihren Koffern nach Garderobenstücken aus den „bessern“ Tagen und kostümierte mich nach Herzenslust. Endlich wurde ich dreister, trat mit der Behauptung auf, meine Stiefel drückten mich beim Schlittschuhlaufen, und veranlasste meine Mutter, mir ihre zu borgen. Dies fiel nicht weiter auf. Ich war damals so wild, dass ich manche Mädchen, deren Schuhe mit gefielen, hätte überfallen mögen, um mich ihrer Fussbekleidung zu bemächtigen. “

„Als ich ungefähr 17 Jahre alt war und die Akademie besuchte, kam es vor, dass wir Freunde uns untereinander Modell standen, weil damals weibliche Modelle noch nicht üblich waren; dies war für mich stets ein gern gesuchter Vorwand, Weiberkleidung anzuziehn.“

„Es kam der Augenblick, wo mir zum erstenmal ein weibliches Modell nackt posierte. Ich fand die Person scheusslich und bemitleidenswert; malen konnte ich nichts nach ihr. Der männliche Körper erschien mir bei weitem schöner; besonders fesselten mich Statuen des Apollo, wie er in langen Gewändern zur Ivithara singend einherschreitet. Schliesslich aber verliebte ich mich doch in ein Modell, das freilich nicht mehr so „unschuldig“ war, wie ich; ich konnte ihren stillen Wünschen indessen nicht willfahren, da ich absolut nicht wusste, was ich mit ihr anfangen sollte.“

„Inzwischen trieb ich mein geheimes Laster weiter. Als ein Kollege bei einem Kostümfest mit Geschick eine weibliche Rolle spielte, kam ich auf die Idee, das auch zu versuchen. Maske und Allüren gelangen mir so vorzüglich (es war eine Tanzpantomime im indischen Stil), dass sogar die Zeitungen lobend davon berichteten. So wohl fühlte ich mich in den Kleidern, dass ich sie nie hätte ausziehn mögen. Doch hütete ich mich wiederum, das jemandem einzugestehn; denn es hing ja mit der Onanie zusammen.“

„Dann verheiratete ich mich, mit derselben, die „nicht mehr so unschuldig war wie ich“, aus moralischen oder irgend welchen Gründen; denn sie hatte inzwischen ein Kind von mir. Ich schaffte mir dann geschmackvolle Frauenkleidung an und kostümierte mich morgens zum Kaffeetisch. Wenn Besuch kam, oder wenn ich auszugehen hatte, musste ich zu meinem grössten Bedauern die Kleidung wechseln. Um sexuell mit meiner Frau verkehren zu können, war es nötig, dass mindestens sie diejenigen Kleider anzog, die ich gern angehabt hätte. “

„Eines schönen Tages verliebte sie sich in einen andern und lief mir davon. Mein Trost waren die armseligen paar Kleider; aber die Einsamkeit überfiel mich doch sehr bitter. Ich war sicher der lasterhafteste Mensch unter der Sonne. Niemandem durfte ich es wagen, mich anzuvertrauen; also weiter heucheln! Ich brauchte Gesellschaft: gefallene Mädchen, womöglich frisch gefallene, die mich gern hatten, weil ich sie versorgte. Ich zog ihnen an, was mir selber so gut gestanden hätte, und lief daneben als „Herr“ (ich war damals eine Tagesberühmtheit geworden). So war es doch keine „Selbstbefleckung“ mehr. Meine eigenen Weiberkleider waren abgeschafft; ich kam mir sehr moralisch vor!“

„Ich benutzte die Mädchen als Modelle, schrieb ihnen Stellungen vor, die sie mit der Zeit lernten, gewöhnte sie an meinen Modengeschmack, bis sie — wegliefen, sobald sich ein passabler Verliebter zeigte. Ich „tyrannisierte“ sie zu sehr.“

„Meine Einsamkeit nahm zu. Manchmal hatte ich heftige Sehnsucht nach einer talentvollen Theaterdame; doch diese liessen sich nicht „tyrannisieren“. Sowie ich allein war, brach mein Laster mit verdoppelter Gewalt aus. Ich suchte meinen Ekel vor mir selbst mit Alkohol zu überwinden.“

„Endlich lernte ich wieder ein mir zusagendes Mädchen kennen. Kurze Zeit vor der Hochzeit bekam ich das Buch von Forel in die Hände und erhielt zum erstenmal Aufklärung über meinen Fall, d. h. eigentlich nur über meinen Stiefelfetischismus. Ich vertiefte mich nun weiter in ähnliche Werke und fand schliesslich den Mut, meiner Frau offen zu gestehn, was mich bedrückte. Die Erleichterung meines Gemüts machte mich förmlich delirieren; ich war geblendet, wie ein Gefangener, der aus den unterirdischen Kerkerlöchern des Dogenpalastes plötzlich auf die sonnige Piazetta in Freiheit versetzt wird. Ich hätte die Welt umarmen und um Verzeihung bitten mögen für meine kleinliche und scheussliche Heuchelei. Nur fern im Untergründe fragte eine Stimme: wozu hast du dich eigentlich verheiratet?“

„Jetzt sehe ich ein, dass ich nun mal so geartet bin. Es geht auch besser mit der Ehe, als ich ursprünglich fürchtete. Man kommt mir entgegen; selbst meine Schwiegereltern haben nichts dagegen, dass ich zu Haus beständig Weiberkleider trage, wofern ich nur ihre Tochter gut behandle.“

Quellen

Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910, Fall 6, S. 54-58