Herr S (Hirschfeld 11, Bloch 2)

Fall 11 in Magnus Hirschfeld „Die Transvestiten“, vorher bereits bei Iwan Bloch in „Das Sexualleben“ unserer Zeit veröffentlich. (trans*, m2f)

Wann erwähnt: 1910

Namen(n): M: Herr S, Herr L / W:

Lebensdaten: 1870 geboren

Beruf: Techniker

Ort(e): nicht genannt

Fallbeschreibung

Originaltext Hirschfeld

Fall XI.

Herr S., 40 Jahre alt, Techniker, verheiratet. Vater war Potator; im übrigen ist zur Frage der Degeneration nichts zu ermitteln. Die Kindheit verlief normal, nur Gehen erlernte er erst Ende des zweiten Jahres. Liebte immer Knabenspiele. Im 17. Jahre trat die Geschlechtsreife ein.

Status praesens: Figur klein, Konturen eckig und mager. Muskulatur schwach. Wird beim Turnen leicht schwindlig. Haut unrein und rauh. Haupthaar ausgegangen; Körperbehaarung stark; Bartwuchs sehr stark. Errötet leicht. Kehlkopf wenig hervortretend. Stimme laut und tief. Leidet seit längerer Zeit an seelischen Depressionen, da bei seiner Frau alle Anzeichen der Paranoia aufgetreten sind. Ist Autodidakt, geistig sehr regsam.

Vita sexualis: Ueber diesen Fall, der sich im Jahre 1904 an mich wandte, hatte Iwan Bloch (Sexualleben unserer Zeit, 4. Aufl. p. 598-601) die Güte, bereits eine ausführliche kasuistische Notiz zu veröffentlichen. Hier mögen die vollständigeren Aufzeichnungen des Herrn L. vom Ende des Jahres 1907 folgen.

In meinem 15. Lebensjahr wurde ein Verlangen in mir wach, das wie Hunger und Durst nach Befriedigung heischte, und dem ich anfangs rein instinktiv folgte. Zuerst zogen mich alle in den Schaufenstern ausgestellten weiblichen Bekleidungsstücke mit unwiderstehlicher und rätselhafter Gewalt an. Ich konnte es nie unterlassen, vor solchen Schaufenstern stehn zu bleiben und besonders schöne Spitzenunterröcke und dergleichen längere Zeit zu betrachten. In Schuhgeschäften hatte ich nur Augen für Damenschuhwerk. Alle Auslagen, die irgend etwas mit der Damenwelt zu tun hatten, wurden von mir zunächst daraufhin gemustert, ob ein Gegenstand nach meinem Geschmack dabei wäre. Hatte ich einen solchen entdeckt, dei mir gefiel, so war sofort auch das Verlangen da, ihn nicht nur kaufen, sondern auch tragen zu können. Eine fast unüberwindliche Sehnsucht fasste mich, nach weiblicher Art gekleidet zu gehn; ich hätte zu gern Damenwäsche angelegt, mich geschnürt usw.“

„Mein eigentümlicher Hang brachte es mit sich, dass ich dem weiblichen Geschlecht gegenüber scheu und verlegen wurde. Ich mied vom 16. Jahre an, so gut es ging, den Umgang mit weiblichen Wesen. Ich lernte deshalb auch nicht tanzen, fühlte mich aber doch beständig zum Weibe hingezogen und wäre am liebsten schon damals in einer Gesellschaft von gleichaltrigen Mädchen verkehrt.“

„Eines Tages wurde mein Drang so stark, dass ich ihm nicht mehr widerstehn konnte. Ich war damals ungefähr 16 1/2 Jahr alt. Als niemand zu Haus war, nahm ich ein Korsett meiner Schwester aus dem Kleiderschrank und begann mich zu schnüren. Andre Kleidungsstücke standen mir nicht zur Verfügung. Hierbei trat nun die erste Erektion ein. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, und zog halb erschrocken das Korsett wieder aus. Ich war über den ganzen Vorgang innerlich unzufrieden, denn ich hätte das Korsett viel lieber anbehalten. Nach einigen Tagen wiederholte ich, einem unklaren Drange folgend, das Schnüren. Hierbei trat ohne mein Dazutun wiederum Erektion ein, und ehe ich das Korsett noch entfernen konnte, auch Ejakulation. Zugleich empfand ich heftige Sehnsucht nach einem mir damals bekannten Mädchen.“

„Ich unterliess es nun für lange Zeit, irgend ein weibliches Kleidungsstück anzuziehn. Ich begann vielmehr einen Kampf gegen meinen Drang. Ich lernte zu dem Zweck Zither spielen, was mir wegen Mangels an musikalischem Gehör sehr schwer fiel. Auch in einen evangelischen Jünglingsverein trat ich ein, dem ich wohl an zwei Jahre angehörte. Doch half dies alles nichts. Je älter ich wurde, um so mächtiger wurde auch mein Verlangen, mir Damenkostüme und Wäsche anzuschaffen. Ich hatte mir vorgenommen, sobald ich ausgelernt, mir ein komplettes Kostüm anzuschaffen, und ich zerbrach mir schon den Kopf darüber, wie ich das am besten anstellen sollte, da brachte mich ein bestimmtes Ereignis von diesem Vorsatz zunächst wieder ab.“

„In X. war zufällig eine Künstlertruppe anwesend, and ich bekam ein Billet für den Abend. Ich war bereits 19 1/2 Jahr alt und hatte noch nie eine Vorstellung besucht, wusste auch nichts von Damendarstellern. Durch das Gespräch zweier Herrn, die vor mir sassen, wurde ich erst darauf aufmerksam, dass die Vortragende Dame männlichen Geschlechts sei. Einer der Herren liess dabei eine Bemerkung fallen über die Neigungen, die derartige Individuen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber haben sollten. Dem ändern schien das nicht recht glaubhaft, aber der erste versicherte er wisse es ganz genau, jedes männliche Individuum, das sich weiblich kleide, gehöre zu jener Rasse von Menschen. Ich ging an diesem Abend sehr niedergeschlagen nach Haus und verbrachte eine schlaflose Nacht. Noch lange klangen mir diese Worte im Ohr. Wie kam hier jemand dazu, über seine Mitmenschen ohne weiteres den Stab zu brechen und etwas zu behaupten, was unmöglich wahr sein konnte! Denn ich fühlte trotz meiner Sehnsucht nach Weiberkleidern nicht die Spur von einer Neigung zum Manne in mir.“

„Es dauerte indes nicht allzulange, so fing ich wieder an, unruhig zu werden, trotz dem Gehörten. Mein Interesse wandte sich Modezeitungen zu; ich beschäftigte mich damit, erst im Geist, dann auf dem Papier Kostüme zu entwerfen, wie ich sie gern getragen hätte. Ich traf Auswahl in Farbe! Stoff, Besatz und Futter usw. Doch verspürte ich nie die geringste Neigung, derartige Kleider selbst anzufertigen oder sonst weibliche Arbeiten auszuführen.“

„Vom 20. Jahr an bis in die Mitte der Dreissiger konnten nuch Kostüme, Unterröcke, Stiefel, Korsetts und Leibwäsche, die ich in den Schaufenstern ausgelegt sah, durch ihre Machart und Farbe förmlich entzücken. Ich merkte mir bestimmte Lieblingsgegenstände und sah immer wieder nach, ob sie noch auslagen.“

„Nicht immer war der Kostümreiz in gleicher Stärke vorhanden. Erst trat er periodisch auf, und nach dem 20. Jahre konstant. So kam es, dass ich später den Widerstand aufgab und darüber nachsann, unter welchen Umständen ich meine Wünsche wohl am ehesten befriedigen könnte. Endlich ich war 24 Jahre alt, fand ich eine Gelegenheit. Zur Wiederherstellung meiner angegriffenen Gesundheit bekam ich einen Urlaub und durfte zu meinen Eltern reisen. Hier entdeckte ich nach ca. 8 Tagen in meinem Zimmer einen Koffer, der ein vollständiges Kostüm nebst Unterkleidern, Schuhen und Ballkorsett enthielt; alles Sachen, die meine Schwester zu einem Fest getragen hatte. Ich konnte den Abend nicht er warten, an dem sich die Eltern zur Ruhe begeben würden, sondern fing gleich an, vor dem Spiegel Stück für Stück anzuprobieren, und konstatierte mit Freuden, dass mir alles ziemlich gut passte. Ein nie gekanntes Gefühl des Wohlbehagens durchrieselte mich dabei. Am liebsten wäre ich gleich auf die Strasse geeilt, um mich in dieser Tracht zu zeigen. Auch befiel mich die Sehnsucht nach einem Weibe, wie ich es mir wünschte, von schlanken, aber gut entwickelten Formen und vollen Haaren. Hätte ich auf die Strasse eilen dürfen, so wäre es mein erstes gewesen, mich einem solchen Weibe zu nähern. So lange ich bei meinen Eltern weilte, unterliess ich es keinen Abend, sobald ich mich sicher wusste, eine Stunde im Kostüm zu bleiben. Das Wunderbarste war, dass ich mich jetzt rasch und in kürzester Frist erholte, während ich vorher 6 Wochen lang vergeblich ein Sanatorium besucht hatte. In diesen 14 Tagen, die ich damals meinem Verkleidungstrieb nachgab, wuchs meine Sehnsucht nach dem Weibe ausserordentlich. Ich wünschte, ein Weib möchte an mir im Kostüm Gefallen finden; dann hätte ich ganz glücklich sein können.“

„Abermals begann ich den Kampf gegen den Kostümreiz; doch vergeblich. Vorübergehende Damen musterte ich intensiv auf ihre Kostüme, Hüte, Stiefel und Frisuren hin; war eine recht chic, so empfand ich eine lebhafte Freude. Manchmal erregte schon das Rauschen eines Rockes hinter mir den Wunsch, auch so gekleidet zu sein. Wenn ich geistig auch noch so stark von irgend einem Thema absorbiert war, es genügte der Anblick eines vorbeischwebenden Tailor-made-Kostüms, um mich sofort abzulenken. Dagegen waren nachlässige Kleider, Reform- und Sackkostüme, sowie traurige weibliche Gestalten überhaupt auf mich vollständig wirkungslos.“

„Natürlich tauchte allmählich auch der Wunsch lebendiger in mir auf, auch körperlich wenigstens soweit Weib sein zu können, dass ich mich im Kostüm auf der Strasse hätte richtig und unauffällig bewegen können. Hieran hinderte mich vor allem mein starker Vollbart, den ich schon mit 18 Jahren hatte.“

„Ich sann beständig darauf, wie ich zu weiblicher Kleidung kommen könnte. Wäre ich zu einer Schneiderin gegangen, so hätte ich ausser manchem andern befürchten müssen, dass die Anproben mich erotisch erregten und dass ich, sobald einmal ein Weib erst meinen Hang kannte, dadurch in ihre bedingungslose Gewalt geraten würde.“

„Ursprünglich war mein männliches Wesen mit meiner femininen Veranlagung durchaus nicht einverstanden, und es kostete einen harten Kampf, bis ich mich zu dem Selbstbekenntnis entschloss, dass ich ein Mischling beider Geschlechter sei. Ich fügte mich also ins Unabänderliche.“

Ich möchte noch ausdrücklich bemerken, dass meine Sinnlichkeit in erster Linie auf die Befriedigung meiner Kostümsehnsucht gerichtet ist, und dass dem gegenüber alle ändern Wünsche zurücktreten. Wenn ich aber irgend welche weiblichen Kleidungsstücke an mir hatte, so trat sofort sexuelle Erregung ein und gleichzeitig das Verlangen nach einem bestimmten Typus Weib. Niemals in meinem Leben fühlte ich mich zu einem Manne hingezogen, auch im Kostüme nicht. Auch minderjährige weibliche Wesen üben keinen Reiz auf mich aus. Den Koitus führe ich in normaler Weise aus, lege jedoch stets vor dem Akt Damenleibwäsche an. Soll der Akt für mich befriedigend verlaufen, so muss ich die nötige Ruhe dazu haben. Auch an zarteren manuellen Liebkosungen, Küssen usw. finde ich dabei viel Gefallen.“

„Wenn ich manchmal sah, wie zwei intime Freundinnen Arm in Arm miteinander gingen oder sich um die Taille fassten, hätte ich sofort immer eine der beiden sein mögen. Später, als ich mehr von den Abarten der Liebe erfahren hatte, erfüllte mich stets Neid, wenn ich mit ansehn musste, wie zwei Freundinnen zärtlich taten. Dies erregte mich auch erotisch.“

„Mit 21 Jahren schaffte ich mir eine Braut an; dieser gegenüber hatte ich nur das Verlangen, ich möchte an ihrer Seite weiblich gekleidet gehen dürfen. Oft wünschte ich, ich möchte wie eine Zwillingsschwester von ihr gekleidet gehn, d. h. absolut gleich an Farbe, Schnitt usw. Mehr als hundert Mal hatte ich mir vorgenommen, meiner Braut ein Geständnis über meinen Zustand abzulegen; doch hielt mich immer folgendes davon ab: Ich fürchtete erstens, meine Braut könnte schon Schlechtes über eine solche Veranlagung gehört haben; dann hätte ich bei ihr natürlich ausgespielt gehabt. Hätte sie mir aber nachgegeben und mir die Kostümierung erlaubt, so wäre ich erotisch erregt geworden und hätte der fleischlichen Versuchung nicht widerstehen können. So verschob ich die Lösung des Dilemmas immer von neuem. Liebkoste ich zuweilen meine Braut und war in Gedanken bei der Kostümfrage, so trat Ejakulation ein. Endlich, ein Jahr vor der Hochzeit, machte ich meiner Braut Eröffnungen über meinen Zustand.“

In einem uns zur Verfügung gestellten Gedichte sucht L. in etwas naiven aber charakteristischen Strophen seiner Braut seinen Zustand klarzulegen; er sagt, dass sie ihr Abbild doppelt in ihm finden werde, schildert ausführlich die einzelnen Kleidungsstücke, die er tragen möchte, weil sie ihn zu höherem Glücke tragen würden und schliesst mit folgenden Worten:

„Nun frage ich Dich, Du holde Maid,
Mit der ich will tragen dasselbe Kleid,
Dich, der ich mich jetzt anvertraute,
Die meine Doppelseele schaute,
Liebst Du mich dennoch wie ich bin,
Dann nimm mich für Dein Leben hin!“

Die Frau zeigte jedoch sehr wenig Verständnis und Entgegenkommen. „Später erst brachte ich sie so weit, dass sie mir ein Kostüm anfertigte; ich schaffte mir dann die da zu gehörigen Unterkleider nach meinen Wünschen an. Jetzt konnte ich das Verlangen, abends weiblich gekleidet zu gehn, nicht mehr unterdrücken; es war um so heftiger, wenn bei Tage irgend ein Vorkommnis dazu Anlass gegeben hatte. Ich vertröstete mich dann immer auf den Abend, wo ich Befriedigung erhoffte. Wurde aber nichts damit, so geriet ich in Missstimmung, ich war ärgerlich, mir war unbehaglich zu Mute, und ich konnte mich oft beim besten Willen nicht in eine bessere Stimmung versetzen. Sogar das Essen wollte mir nicht schmecken. Konnte ich mich aber einige Tage hintereinander weiblich kleiden, so wuchs meine Lebensfreudigkeit und Arbeitslust ungemein.“

„Meine Frau betrachtete die Angelegenheit zuerst als eine merkwürdige Leidenschaft, später begann sie mit Vorwürfen, ich sei „pervers“. Nachbarinnen mochten sie aufgehetzt haben. Schliesslich nahm das überhand, und sie machte mir Jahre hindurch das Leben zur Hölle. Es bildete sich bei ihr der Verfolgungswahnsinn heraus, ich sei ein Sittlichkeitsverbrecher und vergreife mich an meinen eigenen Kindern. Was ich in dieser Ehe alles zu leiden hatte, lässt sich überhaupt nicht wiedererzählen.“

Es sei bemerkt, dass die Frau sich seit ca. 3 Jahren wegen Paranoia in einer Irrenanstalt befindet.

Quellen

  • Iwan Bloch: Sexualleben unserer Zeit, 4. Aufl. 1908, Fall 2, S. 598-601
  • Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, 1910, Fall 11, S. 79-86