84/366: Psyche, 1950, Frank Töpfer: Verstümmelung oder Selbstverwirklichung, 2012
Kehren wir nach unserem internationalen Ausflug wieder zurück nach Deutschland. Was war hier nach dem Krieg? Zu Trans gab es vereinzelte Aufsätze in der Fachliteratur, dazu fehlt mir aber, so außerhalb der akademischen Welt lebend, der Zugang. Ein paar Zeitschriften sind mir aber mal zufällig über den Weg gelaufen.
Heute zunächst zum Blatt »Psyche« im Jahr 1950, in meinem laienhaften Verständnis möchte ich berichten (muss aber etwas ausholen). In jenem Jahr hatte es eine Fachtagung von Psychiaterinnen und Neurologinnen in Südwestdeutschland gegeben, auf der der Schweizer Psychiater Medard Boss einen Vortrag über Daseinsanalyse bei einer trans Frau (ich verwende bewusst die heutige Terminologie) hielt, bei der er schließlich eine geschlechtsanpassende Operation befürwortet hatte. Darüber berichtete der in Heidelberg lehrende Alexander Mitscherlich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Psyche« und nannte das Vorgehen »Verstümmelung«. Boss wiederum empfand sich als inakzeptabel dargestellt und veröffentlichte eine Erwiderung. Mitscherlich fragte nun 28 damalige Vertreter*innen der Zunft nach ihrem Standpunkt, mit 24 veröffentlichten Rückmeldungen.
Von dieser als Boss-Mitscherlich-Kontroverse hatte ich bis dato nie gehört, aber eine solche Auseinandersetzung aus dem Jahre 1950 ist natürlich allemal interessant. Wenn auch die Ansichten aus heutiger Sicht überwiegend schrecklich sind. Es waren keine guten Zeiten für trans* Menschen (aber wann waren sie das je …). Aber Hirschfeld war da jedenfalls schon mal weiter gewesen.
Unter dem Titel »Verstümmelung oder Selbstverwirklichung« veröffentlichte Frank Töpfer 2012 ein Buch, in dem im Wesentlichen alle noch existierenden Beiträge der Kontroverse abgedruckt sind. Transhistorisch also ein interessantes Werk, und auf die Ansicht, dass trans* Operationen eine Verstümmelung seien, trifft man bei manchen Menschen ja immer noch (wären sie nur nie hinter ihrem Stein hervor gekrochen).
85/366: Bürger-Prinz, Albrecht und Giese: Zur Phänomenologie des Transvestismus bei Männern, 1953
1953 erschien in den »Beiträgen zur Sexualforschung« Heft 3 mit dem Titel »Zur Phänomenologie des Transvestismus bei Männern«, die Autoren waren Bürger-Prinz, Albrecht und Giese. Wie in der Vorkriegszeit werden Kasuistiken von trans Frauen aneinandergereiht, inkl. dem ganzen Bündel an pathologischen Sichtweisen und Unverständnis der damaligen Zeit.
Das Heft endet wie folgt: »Überblickt man das ganze noch einmal, so ist doch bei allen Fällen, die wir darstellten, höchst eindrücklich, wie gleichförmig die Weisen der Ausfaltung, die Arten des Sichverhaltens bei den einzelnen Männern sind, und wie entscheidend die Rolle der Selbsttäuschungen in einem solchen Leben wird, bis zu welcher Einengung kritischen Vermögens diese Lebensgestalten gelangen und wie grotesk für den Betrachter die Diskrepanz zwischen glaubenshaftem, schwärmerischen Selbstbetrug und tatsächlicher körperlicher Verfassung werden kann.« Als so eine »groteske Lebensgestalt« möchte ich da nur ein gepflegtes »Ihr mich auch!« erwidern.
86/366: Johann M. Burchard: Struktur und Soziologie des Transvestitismus und Transsexualismus, 1961
Die gleiche Zeitschrift wie gestern noch einmal: 1961 erschien in den »Beiträgen zur Sexualforschung« erneut eine Ausgabe zu Trans*. Diesmal »Struktur und Soziologie des Transvestitismus und Transsexualismus« von Johann M. Burchard.
Ich erinnere mich nicht, ob bzw. wann ich es gelesen habe. Und jetzt haben mir der verschwurbelte Anfang und der ganze pathologische Mist in der Zusammenfassung das Interesse an einer erneuten Lektüre auf Anhieb vergällt. Der letzte Absatz (2. Foto) ist jedenfalls kein Deut besser als gestern, in den fast 10 Jahren seit dem gestrigen Buch hatte sich offenbar herzlich wenig verändert.
87/366: Claus Overzier: Die Intersexualität, 1961
Ein ganz anderes Fachbuch aus dem Jahr 1961 ist »Die Intersexualität«, herausgegeben von Claus Overzier. Da ich mich beim Thema Literatur zu Inter nicht so auskenne, kann ich es nicht weiter einordnen. Das Buch, das sich an medizinisches Fachpersonal richtet, ist aber ein wuchtiger Brocken, 560 Seiten stark, mehr als 1,5 kg schwer. Und 119 DM waren 1961 ziemlich viel Geld für ein Buch. In den Beiträgen, für medizinisches Fachpersonal werden alle möglichen Varianten von Inter vorgestellt und diskutiert.
Nachkriegszeit: Romane und Biographien
88/366: Warwick Deeping: Heute Adam, morgen Eva, 1954
Schauen wir nach dem eher unangenehmen Blick in die Fachliteratur der Nachkriegsjahre lieber ins schöne Fach. Das heutige Buch, der Roman »Heute Adam, morgen Eva« von Warwick Deeping, liegt mir in einer Bertelsmann-Ausgabe von 1954 vor, wie ich aber gelernt habe, erschien es im englischsprachigen Original bereits 1907, unter dem Titel »The Return Of The Petticoat«. Der englische Schriftsteller Warwick Deeping (1877–1950) schrieb über 60 Unterhaltungsromane, und bereits 1907 diese Novelle, in der die Hauptfigur eine Frau ist, die als Mann lebt (es klingt also nach einem trans* Mann, aber dieses Konzept in unserem heutigen Verständnis existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht). Ich mag das Cover im Stil der 50er-Jahre-Moderne.
88/366: Harald Budde: Zwischen Bett und Sofa, 1994
Es gibt auch biographisch gefärbte Romane oder Autobiographien, in denen man etwas über Trans* in der Nachkriegszeit erfährt. So auch im heutigen schmalen Band »Zwischen Bett und Sofa oder Vom Mythos der Nachkriegsjahre« von Harald Budde, erschienen 1994. Mehr zum Inhalt siehe Klappentext (2. Foto).
(Wer merkt es?)
89/366: Helga F. und Sabine Weigand: Helga, 2016
Eine Autobiographie, die ebenfalls etwas weiter in die Vergangenheit reicht, ist »Helga«, 2016 erschienen, geschrieben von Helga F. (sie ist trans Frau) und Sabine Weigand. Helgas Leben beginnt 1931 in Nürnberg. Das Buch ist 2017 auch in einer Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen – endlich habe ich hier mal ein Buch, das nicht seit Jahrzehnten vergriffen ist 😉. Aber wie man im Prolog sehen kann: Selbst 2016 wird Geschlecht über Genitalien und Op definiert, das Narrativ vom »falschen Körper« ist quicklebendig, und es muss auch gleich der alte Name fallen. Warum?
90/366: Vera Freyberg: Manns genug, Frau zu sein, 2003
Eine weitere Autobiographie einer älteren trans Frau ist »Manns genug, Frau zu sein« von Vera Freyberg, die 2003 erschien. Vera wurde 1926 geboren und gehörte 1981 zu den ersten, die das TSG in Anspruch nahmen (das damals eine deutliche Verbesserung der rechtlichen Situation für trans* Menschen war).
Damit wäre das erste Quartal meines Projektes für 2020 geschafft, 90 Bücher habe ich bislang vorgestellt. Und immer noch sind wir nicht wesentlich über die Nachkriegszeit hinausgekommen: So viel trans* Literatur existiert!
91/366: Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1973
Heute ein Klassiker zur Psychiatriegeschichte. Daniel Paul Schreber (1842–1911), Sohn von Moritz Schreber (dem wir die Schrebergärten verdanken), schaffte es beruflich bis zum Gerichtspräsidenten im sächsischen Freiberg. Heute ist er vor allem für die »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« bekannt, die 1903 erschienen, eine von ihm selbst verfasste Fallstudie einer psychotischen Erkrankung. Insgesamt verbrachte er 14 Jahre in Heilanstalten. Mit der Deutung seines Aufzeichnungen befassten sich Größen wie C. G. Jung, Freud und Canetti. Meine Taschenbuchausgabe stammt von 1973, daher stelle ich sie jetzt vor.
Was hat dieses Buch hier zu suchen? Nun, in seinen psychotischen Schüben hatte Schreber auch wiederholt Phasen, wo er sich als weiblich empfand. Und in der Differenzialdiagnostik wurde (wird?) bei Trans immer auch genannt, dass psychotische Erkrankungen ein Ausschlusskriterium seien. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, welche Rolle die bekannten Aufzeichnungen von Schreber dabei spielten, dass das Bild von trans Menschen ein so furchtbar pathologisches war und z.T. noch immer ist.